Rosenheim – Für die anwesenden Landwirte war das schier unvorstellbar: Eine landwirtschaftliche Fläche zu bewirtschaften, die größer ist als die Landkreise Rosenheim, Ebersberg und Traunstein zusammen. Mit Faszination und teilweise ungläubigem Kopfschütteln verfolgten sie daher den Vortrag von Stefan Dürr, der in Russland auf rund 500000 Hektar Landwirtschaft betreibt.
Er war der Hauptredner der Veranstaltung „Landwirtschaft in neuen Dimensionen – Chancen und Auswirkungen für die Landwirtschaft in Bayern“, zu der der Kreisverband der Volksbanken Raiffeisenbanken Rosenheim und Umgebung in die Rosenheimer Inntalhalle eingeladen hatte.
Die Gastgeber, Vorstandsvorsitzender Hubert Kamml und Kreisagrardirektor Christian Bürger, konnten neben rund 650 Kunden ihrer Genossenschaftsbank auch zahlreiche Ehrengäste begrüßen. Darunter Prof. Dr. Angelika Niebler, Mitglied des Europäischen Parlaments, die Landtagsabgeordneten Otto Lederer und Klaus Stöttner, Bezirksrat Sebastian Friesinger, Kreisbäuerin Katharina Kern und Bauernverband-Kreisobmann Josef Bodmaier und viele mehr.
Spannungsfeld angesprochen
Kreisagrardirektor Bürger betonte die hohe Bedeutung der Agrarpolitik auf europäischer Ebene und sprach das Spannungsfeld zwischen sozial-ökologischer Verantwortung und unternehmerischem Handeln an. Vorsitzender Kamml erklärte, dass die Volksbanken Raiffeisenbanken stets ein Finanzdienstleister für die Bauern gewesen sei, der sich immer der Zukunft zugewandt habe.
Klaus Gschwendtner, der als stellvertretender Kreisobmann des Bauernverbandes ein Grußwort sprach, hielt in Hinsicht des aktuellen Volksbegehrens „Rettet die Bienen“ ein Plädoyer für einen gesamtgesellschaftlichen Artenschutz. Dieser dürfe nicht die Landwirte „zu gesetzlichen Befehlsempfängern machen, während alle anderen so weitermachen wie bisher“.
EU-Parlamentsmitglied Niebler stellte sich klar hinter die Idee von Europa und hinter die Landwirte. „Ich wünsche mir ein starkes Europa, in dem die bayerische Landwirtschaft eine gute Heimat hat“, sagte sie.
Anschließend zog Hauptredner Stefan Dürr die gesamte Inntalhalle in seinen Bann. Der aus Eberach am Neckar stammende Landwirt skizzierte zunächst seinen Werdegang: Auf dem großväterlichen Betrieb mit 14 Hektar absolvierte er seine Ausbildung zum Landwirt und studierte danach Agrarwissenschaft in Bayreuth. Im Rahmen eines deutsch-russischen Praktikantenaustausches kam er im Jahr 1989 als einer der ersten Praktikanten im Agrarsektor nach Russland. 1998 stieg er in den Handel mit Landmaschinen in Russland ein, 2003 gründete er den ersten landwirtschaftlichen Betrieb.
Entgegen anfänglicher Vorbehalte habe er Russland als sehr herzliches Land erlebt. Außerdem habe es große Möglichkeiten in der Landwirtschaft gegeben. In der Tat: Mit dem Landmaschinenhandel macht Dürr heute 150 Millionen Euro Umsatz im Jahr.
Die landwirtschaftlichen Betriebe der Ekosem Agrar Holding in verschiedenen Regionen umfassen eine Fläche von 500000 Hektar, 135000 Rinder, davon 70750 Milchkühe und rund 10000 Mitarbeiter. Das Unternehmen produziert rund 1780 Tonnen Milch pro Tag. Damit ist Ekosem der größte Milchproduzent in Europa und liegt auf Platz sieben weltweit.
Die Flächen liegen zwar in verschiedenen Regionen Russlands, sind dort aber über weite Teile arrondiert. „Sehr gute Bedingungen“, sagte Dürr, der die Zuhörer auch mit seiner bodenständigen Art begeisterte. Angesichts der Entwicklung des Unternehmens staunten die Rosenheimer Landwirte nicht schlecht: Rinderzahl und Fläche haben sich demnach seit 2016 mehr als verdoppelt. Das allerdings, so Dürr, sei in Russland nicht untypisch. Dort herrsche ein „enormer Strukturwandel“.
Die großen Agrarunternehmen würden zum Beispiel regelmäßig von Minister, Premierminister oder gar Präsident gefragt, was sie denn bräuchten – also eher andersrum als in Deutschland. Die politische Linie sehe so aus, dass alles gefördert werde, was den Erfolg auf dem Weltmarkt, Investitionen und den Export stärke. Etwas neidisch hörten die Landwirte, dass sich die russischen Erzeuger in einer stärkeren Position befänden als die Verarbeiter. „Der Vorteil in einem unterversorgten Markt“, so Dürr.
Unterschiedliche Betriebsform
Obwohl sich die Betriebsform von Ekosem deutlich von der bayerischen Landwirtschaft unterscheidet, konnte Dürr den Bauern einiges mitgeben. Zwar werde Russland, wenn die Eigenversorgung gedeckt ist, nicht auf den europäischen, sondern mehr auf den asiatischen Markt gehen. Doch auch das könnte Auswirkungen für deutsche Bauern haben, etwa solche, die selbst in diese Richtung exportieren. „In der Massenproduktion habt Ihr keine Chance gegen uns“, machte Dürr ganz deutlich.
Deswegen müsste man in Bayern „mehr aus der Milch machen“. Nur ein „weißes Produkt“, das könne man inzwischen auch schon aus dem Bioreaktor im Labor gewinnen. „Was Ihr vor der Haustür habt, ist eine gesundheits-, tierwohl-, umwelt- und heimatbezogene Kundschaft mit hoher Kaufkraft“, so Dürr. Es gehe ums Image der Landwirtschaft, das bisher nicht so richtig vermittelt worden sei. Doch wenn man hier ansetze, habe man die Chance, sich richtig gut weiterzuentwickeln.
Frage nach der Korruption
In der abschließenden Diskussion wurde der Referent nach Korruption in Russland gefragt und betonte, dass man diese teilweise erlebe, aber im Unternehmen nicht dulde.
Außerdem wollte ein Zuhörer wissen, wie es mit verfügbaren Flächen aussehe. Falls der ein oder andere Landwirt damit liebäugelte, nach Russland auszuwandern, musste ihn Dürr da enttäuschen. Inzwischen seien die guten landwirtschaftlichen vergeben oder es gebe, falls sie frei würden, einen Wettbewerb darum.