Schlusslicht bei Masern-Impfung

von Redaktion

Impfpflicht ja oder nein? Die Debatte darüber ist heftig und entzündet sich an der aktuellen Ausbreitung von Masern. Heuer gab es in Bayern 34 Fälle, davon ein betroffenes Kleinkind im Landkreis Rosenheim. Dieser ist erschreckendes Schlusslicht in der Impfstatistik.

Rosenheim – Unter Keuchhusten, Kopfläusen, Borkenflechte oder Windpocken leiden laut Meldestatistik beim Staatlichen Gesundheitsamt Rosenheim die Menschen, meist Kinder, am häufigsten in Stadt und Landkreis Rosenheim. Unter Masern weniger. Deren Impfung aber wird zurzeit heftig diskutiert. Laut der Masern-Impfstatistik hat Rosenheim in Bayern die „rote Laterne“ bei Schulanfängern. Über diese Gruppe werden Daten erfasst.

3150 Impfpässe überprüft

Prüfungen der Impfpässe von 3150 Fünf- bis Sechsjährigen bei der Schuleingangsuntersuchung ergaben: 80,8 Prozent der Kinder weisen eine zweimalige Masern-Impfung auf, 90,2 Prozent eine einmalige. Die Zahlen gelten fürs Schuljahr 2016/2017 und für Stadt und Landkreis Rosenheim. Für 2017/18 werden die Ergebnisse im Sommer erwartet.

Warum ein Jahr Verzug? Das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit wertet alle Zahlen aus dem Freistaat aus und muss eine Veröffentlichung zuvor abnicken. Die Prüfung braucht seine Zeit.

Im Vergleich zum Schuljahr 2015/16 hat sich die Impfungs-Akzeptanz geringfügig gesteigert: Bei der Zweifach-Impfung um 0,5 Prozent (2014/15: 3,4 Prozent), bei der Einfach-Impfung um 0,6 Prozent (1,3 Prozent). Von einer Impf-Müdigkeit oder Sorglosigkeit will Dr. Wolfgang Hierl, Leiter des Staatlichen Gesundheitsamtes Rosenheim, nicht sprechen, im Gegenteil. Die Ursache sieht er im sozioökonomischen Status der hiesigen Bevölkerung: geringe Arbeitslosigkeit, geringe gesundheitliche Belastung, wirtschaftlich gut situiert. Diese Menschen setzen sich demnach mit dem Thema Masern-Impfung stärker auseinander, gerade junge Eltern recherchieren dazu im Internet, stoßen auf impfkritische Beiträge oder sind empfänglicher für alternative Heilmethoden.

Nachweis

bei Kita-Eintritt

Die rigorose Ablehnung einer Masern-Impfung beziffert Hierl für Bayern auf zwei bis drei Prozent, für den Landkreis Rosenheim (etwa 259400 Einwohner) liegen keine Zahlen vor. Das Bundesgesundheitsministerium steuerte gegen die „Impflücken“: In jeder Lebensphase sollen Gesundheitsuntersuchungen beim Arzt genutzt werden, den eigenen Impfschutz zu überprüfen. Auch muss vor der Aufnahme in eine Kita eine ärztliche Impfberatung nachgewiesen werden. Wird der Nachweis nicht erbracht, müssen die Kitas an die Gesundheitsämter melden. Das versetzt diese in die Lage, gezielt auf die Eltern zuzugehen. Allerdings haben diese gesetzlichen Regelungen bisher zu keiner nennenswerten Verbesserung des Impfschutzes gegen Masern geführt.

Erkranktes Kind befeuert Debatte

Die relativ niedrige Impfquote ist nicht nur ein Rosenheimer Problem. Ähnlich ist es in den Landkreisen Traunstein und Miesbach. Zehntelprozente unterscheiden oft die Statistik-Quote. Aber: „Es gibt ein Nord-Süd-Gefälle“, sagt Hierl. (Ober-)Franken ist besser durchgeimpft, kommt an eine Herdenimmunität heran. Davon wird gesprochen, wenn 95 Prozent der Bevölkerung zweimal geimpft sind: Dann gibt es zu wenige Personen, von denen die Masernviren auf andere Personen springen und sich fortpflanzen können.

2019 gab es bisher in Bayern 34 Masern-Fälle (Quelle: Staatsregierung), einer davon im Februar im südlichen Landkreis Rosenheim (wir berichteten). Betroffen war ein einjähriges Kind, über 80 Kontaktpersonen wurden untersucht, nur 26 davon waren immun gegen Masern. Der Fall befeuerte die Impf-Debatte.

„Der Weg von 80,8 Prozent Zweifachimpfung wie in Rosenheim hin zu 95 Prozent ist ein langer und steiniger“, sagt Hierl angesichts einer nur circa halbprozentigen Jahressteigerung. Das Staatliche Gesundheitsamt plant auch deshalb, in den sechsten Klassen verstärkt Aufklärungsarbeit für eine Masern-Impfung zu betreiben.

400 Menschen

in Quarantäne

Weltweit nahmen die Masern-Fälle im ersten Quartal 2019 um 300 Prozent zu (gegenüber 2018). In Europa soll sich die Ansteckungsgefahr verdreifacht haben. In Los Angeles sind aktuell Hunderte Menschen in Quarantäne, weil sie sich mit Masern angesteckt haben könnten (Quelle: Los Angeles Times, Washington Post). Ausgangspunkt: Unis.

Die zweite Masern-Impfung sollte laut Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) spätestens zum Ende des zweiten Lebensjahres erfolgen. 99 von 100 Menschen können somit einen Impfschutz aufbauen. Bei einmaliger Impfung sind fünf bis zehn von 100 Geimpften nicht genügend geschützt. Die Altersgruppe 24 Monate/zwei Impfungen ist da besonders interessant: Im Geburtsjahrgang 2014 beträgt die Impfquote für den Landkreis Rosenheim 77,1 Prozent, für die Stadt Rosenheim 63,5 Prozent und für Bayern 75,7 Prozent. „Damit liegt der Landkreis etwas über dem bayerischen Landesdurchschnitt, die Stadt deutlich darunter“, sagt Hierl.

Fragen an Juristen und Ethikkommission

Der Leitende Medizinaldirektor bringt in die Debatte um eine Impfpflicht drei interessante Aspekte: Es ist richtig, dass nicht jedes Bundesland die Impfung selbst regelt, sondern dies bundeseinheitlich geschieht. Und: Rechtlich ist eine Impfpflicht zu überprüfen. Sie stellt einen Eingriff ins Sorgerecht der Eltern dar. Zu berücksichtigen ist ebenso die medizinisch-ethische Seite. Bei einer Kontraindikation des Kindes (Immundefekt) verbietet sich womöglich die Impfung. „Darf das Kind trotzdem die Kita besuchen?“, heißt somit die Frage. Und: Wie sehr kann der Gesetzgeber verpflichtend eingreifen gegenüber dem Einzelnen, um die Gemeinschaft zu schützen? „Das ist eine Frage an die Ethikkommission“, sagt Hierl.

Ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums bestätigt, dass derzeit ein konkreter Referentenentwurf ausgearbeitet wird. Im Mai werde er allen beteiligten Kreisen zugeleitet, sodass auch ethische, medizinische, juristische und ökologische Fragen (etwa Verfügbarkeit von Impfstoffen) abgeklärt werden können.

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