Traunstein/Rosenheim – Ein 52-jähriger Unternehmer mit Firmensitz in Rosenheim und Wohnadresse im Berchtesgadener Land soll drei Sozialkassen zwischen 2010 und 2016 um Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge in Höhe von über 1,447 Millionen Euro geschädigt haben – durch Schwarzlohn für Mehrstunden seiner Mitarbeiter. Der aufwendige Prozess der Zweiten Strafkammer am Landgericht Traunstein mit Vorsitzendem Richter Erich Fuchs wird am 22. Oktober sowie am 7. und 25. November, jeweils um 9 Uhr, fortgesetzt.
Ursprung
in Postdam
Das Verfahren gegen den 52-Jährigen, der gestern keine Angaben zu den Vorwürfen der Staatsanwälte Linda Amótfalvy und Alexander Foff machte, hatte seinen Ursprung in Potsdam. Dort stießen Fahnder auf eine Firma, die als Aussteller von Scheinrechnungen bekannt war. Dazu gestern ein Zeuge der Finanzkontrolle Schwarzarbeit von der Zollverwaltung Rosenheim: „Dort haben wir vom Angeklagten bestellte Rechnungen von Subunternehmern aufgefunden – Rechnungen, die man benötigt, um aus der eigenen Buchhaltung Geld heraus zu ziehen und damit Schwarzarbeit bezahlen zu können.
Eine Scheinrechnungsfirma erweckt den Anschein eines aktiven Unternehmens. Die Rechnungsstellung erfolgt aber oft erst, wenn die Firma gar nicht mehr tätig ist. Wir haben in Potsdam eine Reihe unterschiedliche Blanko-Firmenbriefköpfe entdeckt. Zwischen fünf und acht Prozent Provision vom Rechnungsbetrag sind in der Scheinrechnungsbranche üblich.“
Der Zeuge bejahte eine Frage des Vorsitzenden Richters, wonach solche Firmen nur wenige oder gar keine eigenen Mitarbeiter haben. Der Finanzermittler schilderte, bezahlt würden die Scheinrechnungen grundsätzlich gegen Quittung in bar. Wie die Geldflüsse genau funktionieren, sei nicht bekannt. Der Zeuge konstatierte, es handle sich um eine kriminelle Masche. Vor sechs Wochen seien die Ermittler bei Durchsuchungen in Berlin auf Blanko-Scheinrechnungen mit einem Gesamtwert von 560 Millionen Euro gestoßen,
Wesentlich mehr Stunden geleistet
Etwa zwei Monate nach Verfahrensbeginn in Potsdam durchsuchten Zollfahnder den Bürositz des Angeklagten in Rosenheim. Seine Buchhaltung habe widergespiegelt, dass seine Mitarbeiter jahrelang wesentlich mehr Arbeitsstunden leisteten als den Sozialkassen gemeldet, berichtete der Zollermittler. Auch das Polizeipräsidium in München sei unter den Auftraggebern gewesen.
In der Firma des 52-Jährigen aufgefunden worden seien Unterlagen mit den offiziellen Stundenabrechnungen, die in die Buchhaltung eingestellt worden waren, aber auch Listen mit den tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden. „Die Mehrstunden waren schwarz beglichen worden“, betonte der Zeuge. Weiter informierte er, keiner der 15 befragten Mitarbeiter habe ihm gegenüber Schwarzarbeit zugegeben. Vor Gericht hätten jedoch mehrere Geständnisse abgelegt.
Gemäß Anklageschrift bezog der 52-Jährige Scheinrechnungen über ein Gesamtvolumen von knapp 2,3 Millionen Euro von insgesamt 20 Subunternehmern, überwiegend aus Berlin. Eines hatte den Sitz in Ottobrunn, eines in Rosenheim. Eine tatsächliche Leistungserbringung durch diese Firmen schlossen die Staatsanwälte aus. Die Sozialbeiträge summierten sich nach Zoll-Berechnung auf 1447455,85 Euro. Davon entfielen mehr als 1,22 Millionen Euro auf den IKK Classic Rechtskreis West, fast 181000 Euro auf die AOK Bayern und über 46000 Euro auf die DAK.
In der Anklage heißt es wörtlich: „Aufgrund der Anzahl des gemeldeten Personals, der geringen Löhne und der hohen Umsätze der Firma steht fest, dass Leistungen mit Arbeitnehmern erbracht wurden, die nicht oder nicht korrekt zur Sozialversicherung gemeldet waren und deren Löhne unter Zuhilfenahme von Scheinrechnungen schwarz ausbezahlt worden sind. Zu diesem Zweck führte der Angeklagte systematische Aufzeichnungen von Schwarzlöhnen für seine Mitarbeiter und ‚bestellte‘ die Scheinrechnungen mit Hilfe von Rechnungsvorlagen.“ Der Vorsitzende Richter merkte an, auf den Rechnern des Angeklagten wie der Scheinfirmen seien teils identische Vorlagen aufgetaucht, die später in Rechnungen mündeten.
Verteidiger
will Freispruch
Von dem 52-Jährigen, den Dr. Markus Frank aus Rosenheim verteidigt, war zu den Vorwürfen gestern kein Wort zu hören. Ein Rechtsgespräch der Prozessbeteiligten blieb ohne Ergebnis. Wie Vorsitzender Richter Erich Fuchs danach mitteilte, liegt die Strafvorstellung der Staatsanwälte bei „mindestens vier Jahren Freiheitsstrafe“. Der Verteidiger wolle „Freispruch“ für seinen Mandanten. Monika Kretzmer-Diepold