Kiefersfelden/Kufstein – Wackelnde Möbel und viel Herzklopfen: Das Erdbeben mit Epizentrum bei Kufstein hat in der Nacht auf Mittwoch auch die Menschen an der südlichen Rosenheimer Landkreis-Grenze zu Österreich aus dem Schlaf gerissen – vor allem die Kiefersfeldener. Dort gibt es kaum jemanden, der das große Zittern mit einer Stärke von 3,9 auf der Magnitudenskala (sehr leicht) „verpennt“ hat.
So erleben Zehntausende in Tirol und Bayern bange Momente. „Ich war in der Tiefschlafphase – aber plötzlich mit einem Schlag hellwach“, sagt Waltraud Wieser (50) aus Kufstein: „Es hat richtig schiach gerumpelt, beängstigend war das.“
Besorgte Anruferin aus Wien
Die Österreicherin, regelmäßig beim Salsatanzen in Rosenheim auf Achse, ist völlig aus dem Takt, ahnt sofort: „Das ist ein Erdbeben.“ Aber die 50-Jährige bleibt im Bett: „Ich habe mich verkrochen, nicht rausgetraut, die Decke über den Kopf gezogen.“ Vorher schaut sie auf den Wecker: 1.35 Uhr. Erst Stunden später schläft die Salsa-Tänzerin wieder ein. Am Morgen ruft die besorgte Schwester aus Wien an – es ist alles in Ordnung in Kufstein, „nichts runtergefallen oder gar kaputt“.
Ein paar Kilometer weiter nördlich schreckt auch Kiefersfeldens Bürgermeister Hajo Gruber im Schlaf auf. Ein Gegenstand fällt herunter – vom Regal überm Bett direkt auf seinen Kopf, um 1.35 Uhr. Seine Ehefrau wird ebenfalls wach und Bruno, der Spaniel der Tochter, ist „ganz aufgeregt“. Der Bürgermeister wartet unruhig auf ein mögliches zweites Beben. Aber das Handy – die Feuerwehr hat die Nummer – bleibt stumm, auch Bruno beruhigt sich wieder.
Am Morgen gibt es im Rathaus und im Ort nur ein Thema: das Beben. „Ich habe noch keinen getroffen, der nicht wach geworden ist“, sagt Michael Priermeier, Geschäftsführer im Rathaus. „Ein unangenehmer Moment war das. Bei mir daheim sind Gegenstände verrutscht oder sogar runtergefallen“, berichtet er.
Beklemmende Augenblicke erlebt auch Christa Sunder in Kiefersfelden-Kohlstatt. Sie ist noch auf den Beinen, in der Küche, barfuß: „Da bewegt sich der Boden unter mir und von irgendwoher kommt ein lautes Scheppern, ein Grollen.“
Auch Sunder hat reflexartig die Zeit im Blick: 1.35 Uhr ist es, sie läuft nach draußen. Im Garten sind Blumentöpfe und -stöcke heruntergefallen. Das Grollen hat sich verzogen. Es ist gespenstisch, ja unangenehm ruhig. Die Häuser der Nachbarn sind dunkel, nur hinter einem Fenster brennt ein Licht.
Christa Sunder geht wieder rein, greift zum Handy. „Erdbeben in der Kiefer???“, fragt sie um 1.40 Uhr auf Facebook – und bekommt schnell Antwort: Ja, ein Erdbeben. „Aber ich habe in Italien Schlimmeres erlebt. Da waren die Schwingungen länger, intensiver“, schreibt ein Facebook-Freund. Das beruhigt. Ehemann Burkhard Sunder (63) ist auch wach. „Das ganze Haus hat gezittert, sowas habe ich noch nicht erlebt“, sagt er.
Auch wenn sich mehrere Sekunden lang die Wände und Böden bewegen – Schäden werden, zumindest in Bayern, am Mittwoch nicht festgestellt – weder im Polizeipräsidium in Rosenheim noch in der Inspektion Kiefersfelden oder bei der Feuerwehr im Ort. „Uns wurde kein einziger Fall gemeldet“, sagt Feuerwehrkommandant Joachim Buchmann, der sich wie andere Kiefersfeldener an 1976 erinnert, als das verheerende Beben in Friaul bis nach Rosenheim zu spüren war: „Da haben auch die Gläser im Schrank gewackelt. Damals haben ja die Brannenburger Gebirgspioniere im Unglücksgebiet geholfen.“
Mehr als 43 Jahre danach erschrecken am Mittwoch, 23. Oktober 2019, 1.35 Uhr, auch die Polizeibeamten, bei der Nachtschicht. Sie hören in der Inspektion ein lautes Geräusch von draußen, spüren ein Rütteln. Das Büromaterial auf den Tischen wackelt.
Bankomat
gesprengt?
Wurde etwa ein Bankomat gesprengt? Eine Streife geht auf Nummer sicher, fährt die Bankfilialen an. Minuten später herrscht Klarheit: Es war ein leichtes Beben, teilt die Einsatzzentrale um 1.47 Uhr mit. Laut Polizeihauptmeister Jürgen Döring gehen nachts etwa 20 Anrufe von besorgten Bürgern in der Inspektion ein. Sie werden die bangen Momente so schnell nicht mehr vergessen – ebenso wie Tausende andere.