Kiefersfelden/Kufstein – Die Wände zitterten, die Herzen klopften: Tausende Menschen im Inntal hat das Kufsteiner Erdbeben in der Nacht auf Mittwoch mit einem beängstigenden Krachen aus dem Schlaf gerissen. Zwei Tage später ist das Herzklopfen weg, auch alle Gegenstände stehen wieder am richtigen Fleck.
Doch wie ordnen Wissenschaftler das Beben ein? Die OVB-Heimatzeitungen sprachen mit Seismologen in Österreich und Bayern.
Beben wie die Kufsteiner Erdstöße vom Mittwoch sind nichts Ungewöhnliches im Alpenraum, direkt an der Kollisionszone der tektonischen Platten zwischen Afrika und Europa. Das sagt Joachim Wassermann vom Geophysikalischen Observatorium der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in Fürstenfeldbruck.
Letzte spürbare Stöße
in den 80er-Jahren
„Da kann so etwas immer mal vorkommen“, erklärt der Seismologe. In der Grenzregion zwischen Bayern und Österreich grummele die Erde sogar sehr häufig vor sich hin – doch meist wackelt es deutlich weiter westlich oder östlich: Erst Ende Juni habe der Boden bei Garmisch gezittert – ein Beben der Stufe 3 auf der Magnituden-Richterskala. Auch die Menschen im Berchtesgadener Land seien Erdstöße mit Intensitätsstufe 3 durchaus gewöhnt.
Im Raum Rosenheim/Kufstein und im Inntal dürfte es laut Wassermann allerdings das stärkste Erdbeben seit Jahrzehnten gewesen sein. In den 80ern hat es einmal so starke Erschütterungen gegeben, dass bei Kufstein eine Autobahnbrücke zeitweise gesperrt werden musste – vermutlich das letzte größere und spürbare Beben im Inntal.
„Diese Stärke ist für die Region nicht üblich“, bestätigt auch Helmut Hausmann, Seismologe der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) in Wien. Im Durchschnitt komme in Tirol ein Beben dieser Stärke maximal alle sechs Jahre vor – die meisten seien viel schwächer.
Bei der Einstufung sind sich die Wissenschaftler in Tirol und Bayern übrigens nicht ganz einig: Für die Österreicher ist es ein Beben der Stärke 3,9 – die Experten im Fürstenfeldbrucker Observatorium kommen auf den Wert von 3,6. Nachbeben, wie sie bei einem solchen Ereignis durchaus vorkommen können, wurden bis Donnerstagnachmittag nicht beobachtet. Sorgen machen muss sich ohnehin niemand: „Die Nachbeben sind fast nie stärker als das eigentliche Beben.“
Jedes Jahr bis zu
200 Beben in Bayern
In Bayern werden jährlich zwischen 150 bis 200 Erdbeben registriert. Das ist einer der Gründe, warum es das LMU-Observatorium in Fürstenfeldbruck überhaupt gibt. Die meisten Erdstöße sind nicht zu spüren.
Bei der Bewertung eines Erdbebens muss man zwischen zwei Kategorien unterscheiden: Magnitudine und Intensität. „Die Magnitude ist das tatsächliche Maß für die Stärke von Erdbeben und die Energie, die dabei freigesetzt wird“, erläutert Wassermann. Hat ein Beben auf der nach oben offenen Richterskala eine Magnitude von über fünf, entstehen strukturelle Gebäudeschäden.
Die Katastrophe von Valdivia in Chile von 1960 gilt mit einem Wert von 9,5 als eines der schwersten Erdbeben überhaupt. Beim Beben vor der japanischen Küste, das 2011 unter anderem zur Fukushima-Katastrophe geführt hat, war es Stufe 8,9.
Das bedeutet aber nicht, dass die Erdstöße vom Mittwoch mit 3,9 (oder 3,6) fast halb so intensiv waren. Zwischen den einzelnen Magnitudenstufen liegen wahre Faktor-Welten. Das Fukushima-Beben war demnach mindestens 40-millionenfach stärker als das etwa fünf Sekunden lange Grummeln mit Epizentrum bei Kufstein, das im Umkreis von bis zu 35 Kilometern zu spüren war.
Die Intensität eines Bebens wird anhand von Beobachtungen und Schadensmeldungen eingestuft. Wassermann: „Die Intensität ist die Wirkung der Beben am Ort des Betrachters, also die Auswirkungen auf Menschen, Gebäude und Landschaft. Diese Zahl beruht rein auf Beschreibungen.“
Risse im Häuserputz?
Nur am Epizentrum
Die Intensität kann sich zwischen Stufe 1 bis 12 abspielen. Das Kufsteiner Ereignis wurde in die Stufe 4 eingeordnet: Es war laut und stark genug, um die Menschen aus dem Schlaf zu reißen und die Wände zittern zu lassen – aber zu schwach, um nennenswerte Schäden anzurichten. Direkt am Epizentrum, ein paar Kilometer südöstlich von Kufstein, könnte es den einen oder anderen Riss im Putz gegeben haben – das sei aber auch schon alles, so die Experten. Erst ab Intensitätsstufe sechs sind meist auch strukturelle Gebäudeschäden durch das Beben zu verzeichnen.
Entscheidend für die Auswirkungen von Erdbeben ist auch die Tiefe – also, wie weit unter der Erdoberfläche der Herd sitzt. „Im aktuellen Fall war er über zehn Kilometer tief“, sagt Wassermann. „Je tiefer der Herd sitzt, desto schwächer ist es zu spüren, wenn die Spannung von zwei aufeinander zu driftenden Krustenplatten entladen wird.“
Die Erde zittert – und
der Rauchmelder jault
Nicht schlecht gestaunt hat in der Nacht zum Mittwoch OVB-Leser Alfred Linke aus Stephanskirchen. Er wurde um exakt 1.35 Uhr nicht geweckt, weil das Bett wackelte – sondern von einem abmontierten Rauchmelder, der im Gang auf einem Marmorsockel über der ausgeschalteten Heizung lag. „Das Ding hat exakt um 1.35 Uhr viermal gejault“, sagt er. Auch für dieses Phänomen haben die Wissenschaftler eine Erklärung: Die Erschütterungen müssen den Staub aufgewirbelt haben, der sich im Melder angesammelt hatte – und so den Sensor, der auf plötzlichen Lichtverlust reagiert, aktiviert haben.