Wenn Körper und Seele leiden

von Redaktion

Zwei Patientinnen der Schön-Klinik Roseneck erzählen von ihrer Magersucht

Rosenheim – Seit ihrem 14. Lebensjahr leidet Marie F. (Name geändert) an einer Essstörung. Angefangen hat es schleichend, fast unmerklich. Als Kind sei sie übergewichtig gewesen, erzählt Marie, während sie sich über ihre dünnen Ärmchen streicht. Ihr Ziel war es abzunehmen, dünner zu werden, weniger zu essen. Seit zwölf Jahren bestimmt ihre Essstörung ihr Leben. Heute ist Marie 26 und immer noch magersüchtig. Seit Mai ist sie Patientin der Schön-Klinik Roseneck am Standort Rosenheim.

Die Klinik ist eine von wenigen Einrichtungen in Deutschland, die Patienten mit extremer Magersucht – das bedeutet, mit einem Body-Maß-Index (BMI) unter 13 kg/m² – aufnimmt. Neben der Psychotherapie benötigen die Patienten auch eine intensive medizinische Versorgung, erklärt Oberarzt Dr. Thorsten Körner. Er hat die Komplexstation mit dem Behandlungsschwerpunkt schwerstgradiger Essstörungen in Rosenheim vor vier Jahren mit aufgebaut und leitet sie als Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie und Facharzt für Allgemeinmedizin.

Komplimente
motivierten sie

In eine braune Strickjacke gehüllt, sitzt Marie neben Anna B. (Name von der Redaktion geändert), einer weiteren Patientin. Die jungen Frauen leiden an Magersucht (Fachbegriff: schwerstgradige Anorexia nervosa). Und hier, in einem der geschützten Klinikräume, erzählen sie ihre Geschichten.

Anfangs klappte es mit dem Abnehmen ganz gut, berichtet Marie über ihre Vergangenheit. Sie hatte ihr Gewicht im Griff. Es folgten die ersten Komplimente von Familienmitgliedern und Freunden. Die Motivation, weiter abzunehmen, stieg. Aber irgendwann kam der Punkt, an dem ihre Eltern eingreifen mussten. Denn Marie konnte mit dem Abnehmen nicht aufhören.

Mit 15 Jahren wurde sie in die Kinder- und Jugendpsychosomatik in Augsburg eingeliefert. Das war der erste Klinikaufenthalt von vielen. 2010 folgte auf Drängen ihrer Eltern ein weiterer Aufenthalt im Therapie-Centrum für Essstörung in München (TCE). „Es ging mir körperlich sehr schlecht“, schildert Marie.

Sie hatte Stress, war mitten in den Abivorbereitungen. Nach einem Jahr Aufenthalt zog sie wieder zu ihren Eltern. Die Auszeit in einer Wohngruppe tat gut, es ging ihr für kurze Zeit besser. Aber mit dem Beginn ihres Studiums erlitt sie ein erneutes Tief: „Der Freundeskreis hat sich verändert und es gab familiäre Umbrüche.“ Die Sucht war wieder da, war niemals wirklich fort. Und Marie erkannte zum ersten Mal selbst, dass sie Hilfe braucht.

2017 kam sie das erste Mal in die Schön-Klinik Roseneck nach Rosenheim. Von August bis Dezember. Die Zeit sei zu kurz gewesen, resümiert Marie heute. Deshalb sei sie seit Mai wieder hier. Freiwillig. Obwohl sie wusste, was sie dort erwartet: 24 Stunden Überwachung. Wer die Schön-Klinik aufsuche, sei freiwillig hier, erklärt Oberarzt Körner in einem Gespräch mit den OVB-Heimatzeitungen. Zwangsernährung gebe es hier nicht. Das bedeutet: Die Patienten müssen selbstständig essen. Von einem Gefühl der Freiheitsberaubung spricht die 26-Jährige, wenn sie an die Anfangsphase im Mai zurückdenkt. Das Zimmer durfte sie nur unter Aufsicht der Leitung verlassen.

Auch auf die Toilette werden die Patienten begleitet, bestätigen die Diplom-Psychologinnen Julia Heese und Matislava Kracic. Es gibt drei Therapiephasen: die Stabilisierungsphase, die Übergangsphase und die Intensivphase. In der ersten Phase werden die Patienten in Überwachungsbetten mit Monitoren untergebracht. Tägliche medizinische und therapeutische Visiten und Untersuchungen stehen auf der Agenda.

Essen unter
Aufsicht

Das Essen wird gemeinsam im Komplexbereich eingenommen – unter therapeutischer Aufsicht. Ziel sei es, an Gewicht zuzunehmen. In der zweiten Phase dürfen die Patienten normale Zimmer beziehen, und in der dritten werden sie auf eine normale Station verlegt.

In der Regel verließen die Patienten nach 70 Tagen die Überwachungsbetten, erklärt Oberarzt Körner. Insgesamt gebe es 24 Betten, davon seien sechs Überwachungsbetten. In solchen lagen auch Anna und Marie. Die Kontrolle abzugeben, sei schwer gewesen. Aber man hatte Zeit, nachzudenken, einfach mal auszuruhen, so Marie.

In der Schön-Klinik sind für Patienten drei Mahlzeiten am Tag Pflicht. Marie und Anna beugen sich dieser Vorschrift. Leicht fällt ihnen das nicht, sind sich die beiden einig. Aber man profitiere von der Gruppendynamik. Man helfe sich gegenseitig.

Essen. Das sei für Magersüchtige immer ein Thema, sagt Anna. Die 32-Jährige ist seit August Patientin der Schön-Klinik Roseneck in Rosenheim. Auch bei ihr war die Krankheit ein schleichender Prozess. „Bei mir gab es keinen konkreten Auslöser.“ Vor vier, fünf Jahren habe sie angefangen, sich mit dem Thema Essen auseinanderzusetzen.

Immer schon hatte sie mit Magen-Darm-Problemen zu kämpfen. Viele Sachen vertrage sie nicht. Irgendwann habe sie angefangen, verschiedene Lebensmittel auszuschließen, weniger Milchprodukte zu kaufen, stattdessen mehr Obst und Gemüse. Auch Kohlenhydrate landeten irgendwann nicht mehr im Einkaufskorb, ebenso wenig Süßigkeiten. Im Laufe des Studiums sei es schlimmer geworden, schildert Anna. Zunächst habe sie nur abends gegessen. Zur Belohnung eines anstrengenden Tages. Auch das fiel eines Tages weg.

Irgendwann konnte sie ihre Sucht nicht mehr verbergen. Viele machten sich Sorgen, fragten sie, was mit ihr los sei. Dass sie zu dünn sei, hörte sie von vielen Seiten. Aber man selbst nehme sich anders wahr, erklärt Anna. Eine Essstörung? Das sei ihr erst Anfang dieses Jahres klar geworden. „Ich konnte nicht mehr rennen“, so die 32-Jährige. Auch das Treppensteigen fiel ihr zunehmend schwerer. Sie wusste, dass sie etwas unternehmen musste, fuhr in den Supermarkt und kaufte sich dort eine Tüte Chips. „Ich konnte sie nicht essen“, erzählt Anna. Da habe sie gewusst: „Alleine kann ich das nicht mehr.“

Body-Maß-Index
von 11 kg/m²

Den Entschluss, die Klinik aufzusuchen, fasste sie selbst. Damals hatte sie einen BMI von elf. Der optimale Wert von Erwachsenen liegt laut Oberarzt Körner zwischen 18,50 bis 24,99. Im Fall von Anna: hochgradiges Untergewicht Grad II. „Magersucht ist eine sehr schwere Krankheit“, sagt Chefarzt Professor Ulrich Voderholzer. Bei einem BMI unter 12 kg/m² gebe es eine Sterberate von 20 Prozent. Das bedeutet: Einer von fünf Patienten stirbt in den nächsten zehn Jahren.

Heut ist Anna froh, die Klinik letztlich aufgesucht zu haben. „Sonst wäre ich vielleicht nicht mehr hier.“ Über ihre Sucht berichten die jungen Frauen ohne Hemmungen. „Wir ekeln uns nicht vor Essen“, stellt Marie klar. Aber die Angst zuzunehmen sei ständig präsent. Ihr Ziel sei es, diese Angst zu überwinden. Daran arbeiten sie. Tag für Tag. Die Einsicht sei der erste Schritt gewesen. Ein wichtiger, wie beide finden.

Drei Formen von Essstörungen

Im Bereich Essstörung unterscheidet man drei Kategorien: Magersucht (Anorexia nervosa), Bulimie (Bulimia nervosa) und unkontrollierte Fressattacken (Binge Eating Disorder). Laut Oberarzt Thorsten Körner wird die Magersucht in zwei Typen unterteilt: den aktiven Typ (viel Sport treiben) und dem passiven Typ (selbstinduziertes Erbrechen und Essen einsparen). Die ersten beiden Krankheitsbilder treten häufig in der Pubertät oder bei jungen Erwachsenen auf, die dritte Kategorie im mittleren Erwachsenenalter.

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