Bluttat in Zelle 123

von Redaktion

22-Jähriger wegen versuchten Mordes angeklagt

Traunstein – Mit einem am WC-Sitz der Haftzelle 123 geschärften Brotmesser versetzte ein 22-jähriger Marokkaner einem Mitgefangenen in der Justizvollzugsanstalt Traunstein einen Stich in den Hinterkopf. Dabei verbog sich das Messer um 45 Grad. Das Opfer (25) überlebte die Attacke. Seit gestern muss sich der mutmaßliche Täter vor dem Schwurgericht Traunstein mit Vorsitzendem Richter Erich Fuchs wegen versuchten Mords und gefährlicher Körperverletzung verantworten. Neben einer Haftstrafe steht Sicherungsverwahrung im Raum.

Die Hauptverhandlung begann gestern mit Verspätung. Der Grund: Der 22-Jährige hatte sich geweigert, seinen Haftraum zu verlassen. Zwei Justizvollzugsbeamte halfen den drei Vorführbeamten der Polizei, den Mann in den Gerichtssaal zu schaffen und ihn dort zu bewachen. Von dem Angeklagten, der sich auf sein Schweigerecht berief, war kein Wort zu den Vorwürfen von Staatsanwalt Markus Andrä zu hören. Der Verteidiger, Dr. Markus Frank aus Rosenheim, äußerte sich bislang nicht zu Schuld oder Unschuld seines Mandanten.

Schriftstücke
zerrissen

Der Marokkaner befand sich am 12. Oktober 2018 mit drei anderen Männern in der Zelle. Er las auf seinem Bett Briefe, während die anderen Männer Karten spielten. Offensichtlich ärgerte sich der 22-Jährige über etwas. Er zerriss die Schriftstücke, setzte sich auf den Stuhl vor dem TV-Gerät und drehte den Lautsprecher auf. Der wütende Mann soll seine Aggressionen an dem völlig ahnungs- und wehrlosen 25-Jährigen, der mit dem Rücken zu ihm saß, ausgelassen haben.

Mit dem zugespitzten 20 Zentimeter langen Brotmesser mit neun Zentimeter messender Klinge in der Faust soll der Täter von hinten unvermittelt zugestochen haben. Der Stich von oben nach unten traf den Hinterkopf. Der 25-Jährige erlitt eine schmerzhafte drei Zentimeter lange Verletzung. Der Stich ging zur Hälfte in den Schädelknochen. Aufgrund der verbogenen Klinge hob sich eine Knochenschuppe ab. Der Geschädigte schrie vor Schmerz auf und wurde von dem 22-Jährigen daraufhin in den Schwitzkasten genommen. Das blutende Opfer bekam noch mehrere Faustschläge ab.

Die beiden Mithäftlinge trennten den Angreifer von dem Geschädigten. Das gekrümmte Messer fiel dabei zu Boden. Der 22-Jährige steckte seine Hand in ein Glas und wollte erneut auf den 25-Jährigen losgehen. Zwischenzeitlich hatten Vollzugsbeamte den Lärm gehört. Durch die Luke in der Zellentür mahnten sie zur Ruhe. Dem 22-Jährigen gelang es, das Messer wieder an sich zu nehmen und die Klinge am Fenstergitter gerade zu biegen. Der Versuch, das Tatwerkzeug aus dem Fenster zu werfen, scheiterte an dem davor gespannten Netz. Dennoch schaffte er es, das Messer noch zu verstecken.

Unter den Zeugen war ein Vollzugsbeamter, der damals lautes Stimmengewirr und Panikschreie aus dem Haftraum 123 hörte. Er schilderte, die Mitgefangenen seien „total verängstigt“ gewesen. Zunächst seien er und seine Kollegen von einer Schlägerei ausgegangen. Als sie den blutenden Verletzten sahen, sei sofort der Anstaltsarzt gerufen, die Polizei eingeschaltet worden. Der 22-Jährige sei in eine andere Zelle gebracht worden. Mit dem dort einsitzenden Landsmann habe es keine Probleme gegeben. Der Beamte informierte weiter, einer der Zellengenossen habe ihm von einem Messer erzählt. Im Beisein der Polizei habe man es bei der Haftraumkontrolle in einer Fensternische entdeckt und sichergestellt, so der Zeuge.

„Schwitzkasten“ eingeräumt

Während einer der Mitinsassen damals einen „Schlag mit voller Wucht“ beobachtete, konnte das 25-jährige Opfer wenig zur Klärung des Geschehens beitragen: „Ich habe plötzlich einen Schlag oder einen Stich am Kopf gespürt“. Er habe nicht gesehen, wie der Angeklagte zugestochen habe. Den Griff in den „Schwitzkasten“ bestätigte der Geschädigte hingegen. Die Wunde musste in jener Nacht im Klinikum Traunstein genäht werden. Nach vier bis fünf Stunden war der junge Mann schon wieder in der Zelle 123. Der Mann leidet bis heute unter Kopfschmerzen, Ängsten und Schlafproblemen.

Der Rechtsmediziner Dr. Fritz Priemer aus Wonneberg verneinte eine „akute Lebensbedrohung“. Die Verletzung sei jedoch abstrakt lebensgefährlich gewesen und stelle „eine ganz erhebliche psychische Traumatisierung“ dar. Die wuchtige Schlagbewegung mit dem Messer hätte auch anders enden können. Der Gutachter wörtlich: „Der Ausgang war dem Zufall geschuldet.“

Das Bundeszentralregister des 22-Jährigen, der bereits mehrere Haftstrafen verbüßte, wies elf Einträge auf, darunter wegen Drogen, Körperverletzung, Nachstellung, Widerstands gegen Vollzugsbeamte, Bedrohung und nach dem Gewaltschutzgesetz. Opfer wurde mehrmals seine Ex-Lebensgefährtin, aber auch andere Leute, etwa in Flüchtlingsunterkünften.

Der psychiatrische Gutachter, Professor Michael Soyka aus Bernau, umriss die Biografie des 22-Jährigen, der als Jugendlicher nach Deutschland kam, als „desolat“. Für psychische Erkrankungen gebe es keine Hinweise.

Erhebliches Aggressionspotenzial

Der Angeklagte halte sich nicht an Regeln und Normen: „Er ist ein gefährlicher Mensch mit Hang zu Straftaten und einem erheblichen aggressiven Potenzial. Er hat kein Mitgefühl für andere Menschen.“ Die Sozialprognose sei schlecht. Die Schuldfähigkeit des 22-Jährigen – den er persönlich für älter halte – sei bei dem Vorfall im Gefängnis nicht erheblich beeinträchtigt gewesen, sagte der Sachverständige.

Der Prozess wird am 10. Februar fortgesetzt.

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