Aus der Kreidezeit ins Tablet-Zeitalter

von Redaktion

Schulen am Puls der Zeit: Das Gymnasium Raubling geht bereits ganz neue Wege

Raubling – „Mit einer Milliarde Euro können wir einen wuchtigen Aufschlag für die Digitalisierung an Bayerns Schulen machen.“ Das sagte Kultusminister Michael Piazolo im April 2019. Was haben Stadt und Landkreis Rosenheim davon? Eine Menge, denn die Milliarde wird auch in der Region wesentlich zur Finanzierung der Digitalisierung an Schulen beitragen (siehe Kasten). Doch schon jetzt tut sich einiges – zum Beispiel am Gymnasium Raubling, das als Pilotschule für Digitalen Unterricht über zwei Tablet-Klassen verfügt und einen digitalen Schulentwicklungstag geschaffen hat.

Moderne Medien ins Lehren und Lernen zu integrieren Synergien zu erzeugen – das war bereits das Ziel von Erich Menacher, der die Schule ein halbes Jahr in komissarischer Leitung führte. So startete 2018/19 nach intensiver Vorarbeit im Gymnasium Raubling die erste Tablet-Klasse. 25 Schüler und einige Lehrer wurden aus den Bewerbern ausgewählt, um als Vorkämpfer des digitalisierten Unterrichts auszuloten, wie die Brücke in die Zukunft geschlagen werden kann. Bereits die Befragung der beteiligten Schüler und Eltern nach dem ersten Halbjahr ergab ein klares „Weiter so“.

70 Prozent der
Achtklässler wollten
in die Tablet-Klasse

Mit der Übernahme der Schulleitung durch Dr. Armin Stadler wurde das Projekt quasi zur Chefsache. Stadler, zuvor Schulleiter an der Schlossschule Neubeuern, hatte dort bereits ein Digitalisierungsprojekt begleitet. Durch das überwältigende Interesse auf Schüler- und Elternseite – 70 Prozent der aktuellen Jahrgangsstufe 8 bewarben sich – konnten nun im Herbst 2019 bereits zwei Tablet-Klassen ins aktuelle Schuljahr starten.

Der Direktor des Gymnasiums Raubling betont allerdings: „Vor allen Aussagen zur Digitalisierung muss man wissen, dass Heftführung und bewährte Unterrichtsformen in bestimmten Bereichen sinnvoll sind und beibehalten werden. Aber wir machen uns die Digitalisierung zunutze, wenn sie einen Mehrwert bringt.“

Unterrichtsmethoden mit kollaborativem und kreativem Arbeiten werden in allen Fächern erprobt und – falls sinnvoll – adaptiert. So werden Lernkonzepte wie „Flipped Classroom“ angewendet. Das ist ein didaktisches Konzept, in dem nicht Lehrer, sondern Schüler im Zentrum stehen. Lerninhalte werden als Video zur Verfügung gestellt. Die Schülersehen sich die Inhalte so oft wie nötig an, bestimmen das Tempo oder recherchieren selbstständig.

Eine weitere Methode, die in Raubling zum Einsatz kommt, setzt auf das, was viele Jugendliche ohnehin am liebsten tun: Bilder und Videos von sich selbst aufnehmen und posten. Mit selbst gemachten Lehrvideos zeigen Schüler, was sie verstanden haben. Gleichzeitig ist das eine effektive Wiederholung des Stoffes.

Mit solchen sogenannten „Lernprodukten“ ist mehr Aktivität der Schüler gefordert: „Mehr selbst gedacht – mehr selbst gemacht“, wie es der Pädagoge Stadler ausdrückt. Das macht noch mehr Spaß, wenn, wie kürzlich im Kunstunterricht der Tabletklasse, nach einem selbstgeschriebenen „Storyboard“ ein „Stop-Motion-Film“ gedreht wird. Unter „Storyboard“ (auch Szenenbuch) versteht man die zeichnerische Version eines Drehbuchs oder die Visualisierung eines Konzeptes. „Stop-Motion“ ist eine Filmtechnik, bei der eine Illusion von Bewegung erzeugt wird, indem einzelne Bilder von unbewegten Motiven aufgenommen und danach aneinandergereiht werden.

Viele didaktische Konzepte sind schon erprobt, da die Digitalisierung in der Bildung zum Beispiel in Nordeuropa schon weiter fortgeschritten ist. Während manche Praktiken in Deutschland schon aus Datensicherheitsgründen nicht möglich sind, ist unbestritten, dass man mit den digitalen Möglichkeiten leichter auf Stärken und Schwächen einzelner Schüler eingehen kann. Manche brauchen etwas länger, um einen Stoff zu erarbeiten? Kein Problem, die Schnelleren können in dieser Zeit ja schon weiterführende Themen betrachten und vertiefen. Damit könne man eine individuellere Förderung, also die sogenannte „Binnendifferenzierung“, in einem größeren Maß durchführen als mit herkömmlichen Konzepten, so Stadler.

Medienkompetenz
als Antwort auf
„Fake News“

Eine wichtige Zielsetzung ist dabei die Stärkung der Medienkompetenz – im Zeitalter der „Fake News“ und der „alternativen Fakten“ ein zentraler Aspekt. Die Jugendlichen sollen so geführt werden, dass sie ein Bewusstsein dafür entwickeln, was die digitalen Medien mit ihnen machen. Stadler: „Auch die digitale Welt muss ihre Grenzen haben. Die Jugendliche sollen die Erkenntnis gewinnen, wo ein Eindringen der digitalen Welt in ihre analoge Welt auch Schaden anrichten kann.“

„Braucht‘s das denn?“, fragen manche Eltern, „die Kinder hängen ja eh schon so oft am Handy und man liest ja allenthalben, wie schädlich das für die Konzentration ist.“ Stadler versteht die Skepsis. Aber den Lauf der Welt könne man nicht aufhalten. Deshalb sei es sinnvoller, „den Stier bei den Hörnen zu packen“ und, statt zu jammern, den Jugendlichen lieber beizubringen, wie sie ihre Sachverständigkeit im Bereich digitaler Medien erweitern und durch einen reflektierten und effektiven Umgang damit zu ihrem Vorteil nutzen können.

Eltern und Lehrer oder Google und Facebook:
Wer erzieht besser?

Stadler: „Die ‚Digital Natives‘ sind in diese Welt hinein geboren und müssen in dieser sozialisiert werden. Irgendwer wird das zwangsläufig übernehmen: Elternhaus und Schule – oder Google und Facebook. Besser ist es doch, wenn wir das machen.“

Das Thema wurde auch zum zentralen Aufhänger für den neu eingeführten Schulentwicklungstag. Den Auftakt machte ein Überblick über das schwedische Bildungssystem. In Skandinavien ist die Nutzung neuer Medien seit Jahren eine Selbstverständlichkeit. Das bestätigt auch die norwegische Gastschülerin Martine Kechter: „Wir bringen uns die Lerneinheiten völlig unabhängig vom Lehrer bei. Dadurch wird vor allem die Selbständigkeit gefördert.“

Workshops für Lehrer und didaktisch-pädagogische Betrachtungen des Tableteinsatzes sowie ein Beispielunterricht mit den Tablet-Klassen für Eltern und Lehrer folgten. Im Deutschunterricht erfolgte per Internetrecherche eine Sprachbetrachtung der Jugendsprache. Am Abend gab Martin Seidl vom Gesundheitsamt Rosenheim interessierten Eltern noch viele gute Denkansätze mit.

Das Fazit aus dem Schulentwicklungstag: Gerade mit Blick auf die zunehmende gesellschaftliche Vielfalt, die sich auch in den immer unterschiedlicheren Lernvoraussetzungen und -ständen im Klassenzimmer widerspiegelt, haben digitale Medien große Potenziale – immer unter der Voraussetzung, dass ihr Einsatz in eine individuell fördernde Lehr- und Lernkultur eingebettet ist.

18500 Schüler sollen profitieren

Eine an pädagogischen Zielen orientierte IT-Ausstattung ist eine wesentliche Voraussetzung zur Förderung der Medienkompetenz von Schülern und für den Einsatz digitaler Medien im Unterricht. Laut Landratsamt bekommt der Kreis Rosenheim vom Bund einen Höchstbetrag von über 6,6 Millionen Euro zugewiesen. Dazu kommen weitere 1,3 Millionen Euro aus einem Förderprogramm des Landes Bayern. Jeweils zehn Prozent der Investitionen muss der Landkreis selbst tragen.

23 Schulen und 18500 Schüler sollen von den Investitionen profitieren. Die Verteilung an die Schulen erfolgt nach unterschiedlichen Kriterien. Sie orientiert sich unter anderem am Zustand der aktuellen Ausstattung und den Konzepten.

Artikel 1 von 11