Rosenheim – Wenn Mehl und Hefe in Zeiten der Corona-Krise im Supermarkt ausgehen, stellen sich viele Menschen die Frage, wo ihre Lebensmittel eigentlich herkommen. Davon profitieren im Moment viele regionale Betriebe und Initiativen, die von Neukunden überrannt werden.
Eine Nachricht auf der Mailbox, ein Anruf auf dem Festnetz und eine E-Mail – keine Reaktion. Nach mehreren Versuchen klappt es schließlich. Florian Anner ist in diesen Tagen ein gefragter Mann. Der 28-Jährige hat das Projekt Solidarische Landwirtschaft (SoLaWi) am Annerhof in Aschau gegründet. Was sich hinter diesem etwas sperrigen Titel verbirgt? Das Grundprinzip besteht darin, dass Kunden einem Landwirt die Abnahme einer bestimmten Menge an Gemüse für einen längeren Zeitraum garantieren, erklärt Anner.
Mitarbeit
als Bezahlung
Der Clou: Nicht nur für Besserverdiener, die sich und der Umwelt etwas Gutes tun wollen, ist das Angebot gedacht. Denn es liegt an den Kunden selbst, ob sie Geld für ihr Obst und Gemüse zahlen möchten, oder einen Teil ihres Einkaufs durch Mitarbeit an den Beeten selbst erwirtschaften. Dafür hat die SoLaWi eine interne Währung und eine Buchhaltung, die genau dokumentiert, wie sich jemand einbringt.
Offensichtlich trifft das Angebot den Nerv der Zeit: „Wir merken ganz genau, dass die Menschen sich wieder nach Produkten sehnen, zu denen sie einen Bezug haben“, sagt Anner. Corona habe dies sicherlich noch verstärkt, der Trend sei aber schon vor der Pandemie spürbar gewesen.
Grenzen als Denkanstoß
Der enge regionale Bezug ist es, der auch beim Simsseer Weidefleisch mit Sitz in Stephanskirchen die Kunden anzieht. Der Betrieb ist als Genossenschaft organisiert und schlachtet selbst Tiere von Biobauernhöfen aus der Nähe. Auch hier sind langfristige Abnahmekontingente der Genossenschaft vereinbart. Verkauft werden die Produkte in der Metzgerei, außerdem auch in einigen Bioläden der Region. Normalerweise werden diese auch in der eigenen Gaststätte verarbeitet und angeboten.
Schlachtzahlen
haben sich verdoppelt
Rudolf Finsterwalder, der das Simsseer Weidefleisch leitet, hat derzeit viel zu tun. Trotz geschlossenen Salettls. „Wir schlachten im Moment doppelt so viel wie sonst.“ Finsterwalder beobachtet ein Umdenken, das aus seiner Sicht mit den Einschränkungen durch das Coronavirus zu tun hat: Auch die Ostermünchener Bio-Hofmetzgerei aus Berg hat enorme Zuwächse. Monika Bartel führt das Geschäft mit ihrem Ehemann und stellt rund ein Drittel mehr Umsatz als sonst fest. Einerseits würden die Stammkunden mehr kaufen, aber auch viele neue Gesichter sieht sie täglich in der Metzgerei.
Regen Zulauf hat auch der Freiluftsupermarkt von Erwin Kiefer in Frasdorf. Sein Projekt liegt direkt an einer viel befahrenen Straße. Im Moment halten dort viele Interessenten, mit denen er Gespräche führt. Der Freiluftsupermarkt ist als nicht eingetragener Verein organisiert. Der Beitrag ist frei wählbar, je nach Größe der Familie zwischen 30 und 80 Euro. Ähnlich wie bei der SoLaWi können die Mitglieder durch eigene Mitarbeit Gutscheine für Obst und Gemüse erwirtschaften. „ Das ist ein ganz neuer Wirtschaftskreislauf. Und deutlich günstiger, wenn man sich einbringt.“
Letztes Jahr startete Kiefer das Projekt zunächst mit acht Mitgliedern, inzwischen hat er nahezu täglich Anfragen. „Immer mehr Menschen wollen wissen, was wir auf dem Teller haben. Corona führt zu einem Bewusstseinswandel“, sagt Kiefer. Eine hohe Nachfrage erlebt auch Claudia Förtsch, die den „Laden im Thal“ bei Soyen mit ihrem Mann betreibt. Neben Obst und Gemüse, die in der Bioland-Gärtnerei vor Ort angebaut werden, verkauft sie Bio-Lebensmittel. „Wir hatten letztes Jahr schon eine gute Entwicklung, aber seit den Schulschließungen ist es richtig krass. Momentan kommen kaum wir kaum noch nach“, sagt Förtsch.
Sicherlich sei Kochen derzeit eine Notwendigkeit, wenn Kantinen, Mensen und Restaurants geschlossen sind, sagt Förtsch. Hinzu kommt aus ihrer Sicht, dass sich Kochen in Corona-Zeiten auch als Hobby entpuppe, weil viele andere Beschäftigungen schlicht nicht möglich seien. „Produktion vor Ort ist wichtiger geworden. Wie bei Medizinprodukten heißt es jetzt auch in andere Branchen buy local.“ Förtsch ist sich nicht sicher, wie stark der Wunsch, sich gesund zu ernähren eine Rolle spielt. Darin sieht Finsterwalder einen Hauptgrund für den Zulauf seiner Metzgerei: „Die Leute legen wieder Wert auf gesundes Essen und Qualität – nicht nur wegen Corona.“ Derzeit steht die industrielle Fleischproduktion in der Kritik. Auch Finsterwalder sieht die Entwicklungen auf dem konventionellen Markt für Fleisch sehr kritisch. Er ist überzeugt, dass ökologische und regionale Modelle nicht nur besser für die Tiere, sondern auch für die Menschen sind und sich durchsetzen werden. Florian Anner und Erwin Kiefer glauben ebenfalls fest daran, dass ein großes Umdenken stattfindet und nicht verpufft, wenn Corona überstanden ist. Und welche Rolle spielt Bio? Viele Lebensmittelhersteller suchen nach Modellen, die ihnen einen Zuverdienst bieten. Aber auch Idealismus spielt bei den Produzenten zum Teil eine große Rolle. Bayernweit sei spürbar, dass Bio aus der Region nicht erst seit Corona gefragt sei, bestätigt Heidi Kelbetz, Sprecherin der Landesvereinigung für den ökologischen Landbau in Bayern (LVÖ).
Setzt sich Bio
künftig durch?
Ob Bio oder nicht, ist Christa Moser vom Lochnerhof in Grainbach völlig egal. Sie stellt Käse her, den sie bei sich am Hof verkauft. Ganz bewusst ohne Bio-Siegel. Sie sieht das pragmatisch: „Für mich ist Bio das was ich beim Bauern vor Ort einkaufen kann. Regional ist gut.“ Markus Drexler, Sprecher des Bayerischen Bauernverbandes: „Tatsächlich ist das Bewusstsein in der Bevölkerung für eine zuverlässige Versorgung mit Lebensmitteln und damit auch die heimische Erzeugung merklich gestiegen.“ Was der Bauernverband von Initiativen wie SoLaWi hält, bleibt auf Anfrage unbeantwortet.