Landkreis – In diesem Jahr kann für Menschen mit Behinderung kein roter Teppich auf dem Max-Josefs-Platz ausgerollt werden, um sie am heutigen Dienstag, dem Europäischen Aktions- und Protesttag der Menschen mit Behinderung, ins Rampenlicht zu rücken. „Wir haben jedes Jahr mit Aktionen auf das Leben und die Probleme von Menschen mit Behinderung aufmerksam gemacht“, sagt Christine Mayer, die Behindertenbeauftragte der Stadt Rosenheim.
Mal mit einem Straßencafé unter dem Motto „Wir wollen auch ein Stück vom Kuchen abhaben“. Mal mit einer Podiumsdiskussion über schulische Inklusion. In diesem Jahr sollte eigentlich „Inklusion von Anfang an“ mit einem riesigen Puzzle symbolisieren, wo noch Bausteine fehlen, damit Menschen mit Behinderung gleichberechtigt am Leben teilhaben können. Wie alle Großveranstaltungen muss auch dieser Protesttag ausfallen.
Daheim bei Mama oder isoliert im Heim
Doch wie geht es Menschen mit Behinderung und ihren Familien inmitten der Corona-Krise, in der Schulen und Werkstätten geschlossen, Wohnheime abgeriegelt sind und keine Besucher empfangen werden dürfen? „Wir sind wieder enger zusammengerückt“, beschreibt Irene Oberst, Behindertenbeauftragte des Landkreises Rosenheim. Ihre Tochter Regina (22) ist eigentlich in der Stiftung Attl. Sie lebt in einer Wohngruppe mit acht anderen Jugendlichen und arbeitet in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung.
Doch seit sieben Wochen ist sie zu Hause in Heufeld. „Ich habe Regina nach Hause geholt, als ich hörte, dass auch die Werkstätten schließen werden“, berichtet die 64-Jährige, denn sie konnte sich nicht vorstellen, ihre Tochter wochenlang nicht sehen zu dürfen. Daheim bekommt der Tag mit Wanderungen, Lern-Apps, Hausarbeit, Kochen und Handarbeit Struktur. „Regina hilft mir gerade dabei, Community-Masken für Attl und unseren Pfarrverband zu nähen“, beschreibt Irene Oberst.
Trotzdem sehnt sich die 22-Jährige nach den Freunden in der Wohngruppe, denn wer will in dem Alter schon immer nur mit Mama zusammen sein. Für ein paar Stunden am Tag kommt ihre Individualbegleiterin ins Haus und bringt Arbeit fürs Homeoffice mit. Gegenwärtig recycelt Regina Papier und stellt kleine Papiertüten für Schmuckgeschäfte her.
Vier Wochen hat es Gerda Schneider aus Bruckmühl ausgehalten, ihre Tochter Christina nicht sehen zu können. Die 39-Jährige lebt und arbeitet in der Südbayerischen Wohn- und Werkstätten GmbH für blinde und sehbehinderte Menschen in München. „Ostern sind wir hingefahren, und haben uns aus dem Auto kurz mit ihr unterhalten. Das war das traurigste Ostern, das ich je erlebt habe“, sagt die 76-Jährige. Obwohl sie aufgrund von Parkinson selbst stark eingeschränkt ist, hat sie ihre Tochter nun nach Hause geholt.
„Ich hatte so ein ungutes Bauchgefühl, war richtig in Panik und wollte mich endlich wieder selbst davon überzeugen, dass es meinem Kind auch wirklich gut geht“, sagt sie. Zwei Wochen ist Christina nun daheim und genießt es, mit der Mutter zu kuscheln, denn, so erklärt Gerda Schneider: „Berührungen sind die wichtigste Kommunikationsform für blinde Menschen.“
Sport ist die Leidenschaft von Katharina Grotz. Zu ihrem Geburtstag hat sie von ihrer Familie ein Tandem geschenkt bekommen, mit dem sie nun gemeinsam mit ihrer Schwester Juliane und Mutter Christiane bei Wind und Wetter unterwegs ist. Christiane Grotz (67) ist auch Behindertenbeauftragte des Landkreises Rosenheim und betont: „Viele Menschen mit Behinderung sind aufgrund von Grunderkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems oder eines schwachen Immunsystems jetzt ganz besonders gefährdet.“
Ihre Tochter Katharina (35) hat durch das Coronavirus einen lieben Menschen verloren: Rosi, ihre Freundin aus der Werkstatt, ist an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben. „Katharina war sehr betroffen, denn die beiden Frauen hatten einen sehr engen Kontakt. Rosi hat ihr beim Essen geholfen, das Tablett an den Tisch gebracht, ihr das Fleisch zerkleinert“, erzählt die Mutter.
Jetzt ist Rosi nicht mehr da. Richtig bewusst wird das Katharina erst werden, wenn sie in die Wendelsteinwerkstätten zurückkehrt, und der Platz neben ihr leer bleibt. Tobias Mayer aus Rosenheim ist eigentlich selbstständig. Er hat eine eigene Wohnung und arbeitet als Küchengehilfe im Café „Arche“ – und all das mit einer geistigen Behinderung. Jetzt aber muss der 36-Jährige wieder bei seinen Eltern wohnen. „Ich kann ihn nicht ganz allein lassen“, erklärt seine Mutter Christine Mayer (55).
Die Corona-Ausgangsbeschränkungen hätten es nicht erlaubt, Tobi regelmäßig zu besuchen oder mit ihm einkaufen zu gehen. Also ist auch sie auf Nummer sicher gegangen und hat ihren Jungen wieder in die elterliche Obhut geholt. Seit seiner Geburt kämpft sie für ihren Sohn und hat ihm so den Weg in ein selbstständiges Leben geebnet.
Auch starke Eltern gelangen an Grenzen
„Viele Eltern von behinderten Kindern sind durch die Corona-Krise an die Grenze ihrer Belastbarkeit gelangt“, verdeutlicht die Behindertenbeauftragte der Stadt Rosenheim: „Eltern, die schwerstmehrfach behinderte Kinder rund um die Uhr allein pflegen und jetzt keine Möglichkeit haben, eine Pause zu machen, um aufzutanken. Eltern, die ihre Kinder bisher tagsüber in Schulen und Werkstätten gut behütet wussten, weil sie arbeiten müssen.“ Und doch klagen diese Menschen nicht. „Wir können momentan nur telefonische Beratungen anbieten“, bedauert Christiane Grotz. „Und doch ruft keiner an und jammert. Diese Menschen sind stark. Und sie sind es für ihre Kinder, denn sie kämpfen schon ein Leben lang dafür, dass ihre behinderten Kinder die gleichen Rechte bekommen wie ihre Altersgenossen ohne Behinderung.“
Die Behindertenbeauftragten von Stadt und Landkreis Rosenheim sind unter folgenden Telefonnummern zu erreichen: Christiane Grotz unter 08062/6340, Irene Oberst unter 0179/1378831 und Christine Mayer unter 08031/3651080.