Rosenheim/Oberaudorf – „Normalerweise muss ich zu sowas erst einmal ein Drehbuch verfassen“, sagt Produzent Til Schweiger zum neuen Film. „Doch bei Basti war das einfach.“ Das Leben schreibt halt die besten Geschichten. Im Fall Schweinsteiger ist es eine besondere. Kein Spielberg, Cameron oder Eastwood hätte es sich besser ausdenken können.
Schon mit der Bühne geht es los. Ausgerechnet im fabelhaften Maracaná, in Rio, und im sagenumwobenen Londoner Wembley-Stadion, den zwei namhaftesten Fußballtempeln der Welt, spielt sich Schweinsteiger in den Olymp der Fußballgötter: Weltmeister 2014, Champions-League-Sieger 2013.
Große Bühne und ein bisserl Tarantino
Und auch ein bisserl Tarantino darf es sein: Das Blut, das am 13. Juli 2014 im Maracaná über Schweinsteigers rechte Wange hinunterläuft, macht den Mann mit der 7 auf dem Rücken endgültig zum Gesicht des epischen Finalkampfes gegen Argentinien. Wie Phönix aus der Asche hatte sich Schweinsteiger im Turnier vom „WM-Touristen“ zum Finalhelden aufgeschwungen. Auch weil er im Endspiel die ganze Last der Verantwortung alleine schultern muss: Khedira verletzt, Kramer ausgeknockt, Kroos und Özil abgetaucht.
Die Argentinier treten ihn, sie schlagen ihn. Aber die deutsche 7 steht immer wieder auf, hält durch bis zum Schluss. Kein Weißblauer kommt an ihm vorbei. Ein Auftritt, der Schweinsteiger unsterblich macht. Dagegen bleibt der grandiose Messi ein Fußballer aus Fleisch und Blut.
Für Schweinsteigers erste Trainer in Oberaudorf und Rosenheim ist der Auftritt von Rio nur logisch: „Willenskraft, Siegeswille, körperliche Robustheit, Durchhaltevermögen – das hat den Bastian schon immer ausgezeichnet“, erinnert sich Klaus Seidel. Der Bad Endorfer, selbst knapp an der Profi-Karriere vorbeigeschrammt, war Schweinsteigers letzter Coach in Rosenheim, bevor dieser mit 14 zu den Bayern wechselte. „Schw31ns7eiger: Memories – Von Anfang bis Legende“ heißt der Film, der die prägenden Rückennummern einer Bilderbuch-Karriere in den Titel integriert: die 7 war es im DFB-Dress, die 31 bei den Bayern.
Helden werden in Kolbermoor geboren
Der „Anfang“ ist eine Kolbermoorer Angelegenheit, nicht zum ersten Mal. Woanders werden Helden gemacht, in Kolbermoor werden sie geboren. Jedenfalls dürfte eine weitere Kleinstadt unter 20000 Einwohnern, die gleich zwei Fußball-Weltmeister hervorgebracht hat, schwer zu finden sein – nicht nur in Deutschland.
Neben Paul Breitner (5. September 1951), eiskalter Elferschütze im 1974er-Endspiel, ist auch Schweinsteiger (1. August 1984) ein Kolbermoorer Kindl – übrigens eines der letzten: Ende der 80er-Jahre wurde das Kolbermoorer Krankenhaus abgerissen.
Im Unterschied zu Breitner wächst Schweinsteiger nicht in Kolbermoor auf, sondern in Oberaudorf. Als kleiner Knirps macht er seine Tore schon dort vor majestätischer Kulisse: Der Bolzplatz des FV Oberaudorf, nicht weit von der Inntalautobahn entfernt, gibt den Blick frei auf das spektakuläre Panorama von Zahmem und Wildem Kaiser.
Der kleine Basti will hoch hinaus. Die Berge sind sein zweites Zuhause, mit den Eltern und seinem zweieinhalb Jahre älteren Bruder Tobias ist er im Winter laufend beim Skifahren. Auch auf der Piste kann niemand mit ihm mithalten, Bastian fährt allen davon. So ist eine Zeit lang unklar, welche Karriere das Multitalent einschlagen soll: Fußball oder Skirennsport.
Als der Bastian allen davonbrettert
Deshalb holt Regisseur Robert Bohrer in Oberaudorf Marco Nicolussi und Stefan Mayrhofer vor die Kamera – zwei Skitrainer Bastians in früher Kindheit. Gedreht wird im Gasthof zum Brünnstein. Dort erzählt auch Hans Kurz von den alten Zeiten. Er ist Bastians erster Fußballcoach im Inntal, drei Jahre trainiert er Schweinsteiger, bevor der Bub mit sechs nach Rosenheim geht.
Bastian spielt schon mit drei im Verein, mit vier darf er sein erstes Spiel bestreiten. Er hat es mit Gegnern zu tun, die alle zwei Jahre älter und mindestens einen Kopf größer sind. Egal, der kleine Quirl holt gleich seinen ersten Titel, mit 113:3 Toren. So geht es weiter, die Spielgemeinschaft Oberaudorf/Kiefersfelden eilt von Kantersieg zu Kantersieg, wird noch einmal Meister – vor allem dank Bastian.
„Er hat herausgeragt“, sagt Kurz. „Aber dass er so eine Karriere hinlegt – wer konnte das schon ahnen.“ Kurz hat ein Hefterl mit den Spielstatistiken von damals griffbereit. Ein Blatt für jedes Match: Links 14:0 beim SBR Rosenheim gewonnen, mit neun Schweinsteiger-Toren; rechts steht ein 13:0 gegen 1860 Rosenheim, wieder macht Bastian neun „Buden“. Und so fort.
Vater Fred öffnet seine Schatztruhe
Vater Fred, einst selbst ein klangvoller Name in der Rosenheimer Fußballwelt, hat für die Doku das Familienarchiv der Schweinsteigers geöffnet – eine Schatztruhe voll mit Videos, Fotos und Zeitungsausschnitten aus der Anfangszeit. So gibt es im Film auch bewegte Bilder, die Bastian im Dress des TSV 1860 Rosenheim zeigen, das er von 1992 bis 1998 trägt.
Tränen, Wunden und ein lautes „Grüß Gott“
In Rosenheim vollzieht sich ein entscheidender Rollenwechsel: weg vom Torjäger – hin zum Vorbereiter, Antreiber, Einfädler. Auch wenn ihm das selbst nicht passt. „Ich habe ihn auf der 8 oder 6 gesehen, Bastian wollte lieber weiter vorn auf der 10 spielen. Da sind auch Tränen geflossen“, erinnert sich Klaus Seidel.
Ob sie nun Seidel, Franz Garhammer, Herbert Weidner oder Günther Schmitt heißen – eines fällt allen Trainern Schweinsteigers in Rosenheim sofort auf: Das Talent aus dem Inntal ist sich für nichts zu schade.
Trainiert und gespielt wird damals auf roter Aufschürf-Asche. Die hinterlässt Spuren. Nicht nur einmal muss Garhammer dem Bastian Dreck mit der Pinzette aus den wundgescheuerten Knien ziehen und mit Jod beträufeln. Die schmerzhafte Prozedur lässt der tapfere Bub ohne einen Muckser über sich ergehen.
Trotzdem ist die Mama nicht gerade begeistert. Ihr Sohn soll sich die Stutzen bis über die Knie hochziehen, zum Schutz, ordnet sie an. Eine Angewohnheit, die Bastian bleibt, zum Markenzeichen wird – auch wenn die Plätze immer grüner, besser und weicher werden.
Ebenfalls gern erzählt wird auch eine zweite Anekdote aus der Rosenheimer Zeit. Als die zehn- bis zwölfjährigen Sechziger-Buben einmal grußlos durch die Vereinsgaststätte spazieren, vorbei am Stammtisch, an den Gästen, an der Wirtin – da setzt es einen gewaltigen Anpfiff vom Trainer. Anstand muss man haben, auch mit einem Torverhältnis von 172:14.
Also schickt der Trainer alle wieder hinauf. Schweinsteiger marschiert vorneweg. Sein „Grüß Gott“ soll so laut, artig und brav gewesen sein, dass sich die Leute in der Wirtschaft vor Lachen gebogen haben.
Ein Lattenkracher als Karriere-Impuls?
Jahre später, es ist der 30. November 1997, biegt sich auch etwas: der Torbalken. Auch auf diesen Gag würde wohl kaum ein Regisseur kommen: Nicht ein Glücksmoment ist es, der einer Karriere den entscheidenden Impuls gibt, auch kein tolles Tor, sondern einfach nur Pech. Und vielleicht ist es wirklich dieser winterliche Lattenkracher, der einem 13-jährigen Talent das Tor zur großen Fußballwelt aufstößt.
Jedenfalls liegt der FC Bayern München im C-Jugendspiel in Rosenheim nach einer Viertelstunde komfortabel mit 2:0 vorn, als Bastian all seine Wut und Kraft in den Fernschuss packt. Der Lattenschuss bringt nichts Zählbares. Aber er ist ein Signal – und Bastians Wut, jetzt noch größer, setzt gewaltige Kräfte frei.
Bastian dreht auf wie ein Tausendsassa, holt sich die Bälle überall, hinten, vorne, in der Mitte, glänzt mit bestechender Technik, wie bei der Vorlage zum 1:2. Am Ende führt er sein Team noch zu einen 4:2-Triumph, der Trainerstab der Münchner staunt nicht schlecht, fährt zwar ohne Punkte heim, hat aber dafür einen neuen Namen auf dem Zettel.
Schon ein halbes Jahr später steht der Blondschopf an der Säbener Straße als Neuzugang auf dem Platz. Er ist jetzt ein Bayer. Bis „Legende“ ist es noch ein weiter Weg. Schweinsteiger geht ihn – nochmals zu sehen ab 5. Juni auf Amazon Prime.