„Grimms Märchen“ aufgetischt?

von Redaktion

Prozess um Sozialleistungsbetrug: Zeuge schildert kurioses Jobangebot

Traunstein/Rosenheim – Die Deutsche Rentenversicherung hat den möglichen Schaden, den ein Rosenheimer Unternehmer (53) durch Sozialleistungsbetrug verursacht haben soll, neu berechnet. Der bei drei Sozialkassen durch nicht abgeführte Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeträge seines Bauunternehmens angerichtete Schaden zwischen 2010 und 2016 soll statt knapp 1,45 Millionen Euro „nur“ noch 1,224 Millionen Euro betragen.

Schaden könnte sich
weiter reduzieren

Wenn die endgültigen Schadenszahlen fixiert sind, muss die Kammer das Thema „Verjährung“ prüfen. Wahrscheinlich werde sich der Schaden dadurch noch weiter reduzieren, betonte Vorsitzender Richter Erich Fuchs gestern. Und weiter: „Zur Verjährung besteht keine gefestigte Rechtsprechung.“

In dem seit Mitte Oktober dauernden Verfahren geht es um angebliche Schwarzarbeit. Der 53-Jährige soll mit Scheinrechnungen krimineller Subunternehmer gearbeitet haben, um mit den Beträgen seine Kasse zum Finanzieren von Schwarzarbeit zu füllen. Derartige Rechnungen, hinter denen mutmaßlich keinerlei Leistungen irgendwelcher Firmen im Bausektor beispielsweise in Berlin und Stuttgart stehen, hatten Zollmitarbeiter der Finanzkontrolle Schwarzarbeit auch bei dem Angeklagten sichergestellt. Die Verteidiger aus Rosenheim, Dr. Markus Frank und Ralph Botor, wollen mithilfe zahlreicher zusätzlicher Zeugen beweisen, dass es sich nicht um Scheinrechnungen handelte.

Ein halbes Dutzend Zeugen vernahm die Zweite Strafkammer bislang zum Komplex „Scheinrechnungen“. Dabei stellte sich immer wieder heraus: Leichtgläubige Menschen wurden ausgesucht, notariell als „Geschäftsführer“ eingesetzt, ihr Name anschließend in krimineller Weise missbraucht. Nach einer jungen Frau am vorletzten Sitzungstag (wir berichteten) bestätigte gestern ein 39-Jähriger aus Berlin diese Praxis.

Der Zeuge wurde nach seinen Worten 2013 in der Berliner U-Bahn von einem Deutschen, einem Türken und einem Bulgaren angesprochen, ob er Arbeit suche. Als der nicht deutsch sprechende Bulgare bejahte, wurde er zu einem ihm bis heute nicht bekannten „alten Mann“ gebracht, offensichtlich zu einem Notar. Dort musste er zahlreiche „Papiere“ unterschreiben. Niemand sagte ihm, worum es überhaupt ging. Fragen blieben unbeantwortet, unterzeichnete Unterlagen erhielt er nicht. Die nahmen die Leute mit, die ihn angeheuert hatten.

Sie sicherten ihm zu, er könne in drei Tagen mit der neuen Arbeit für einen Lohn von 60 Euro täglich beginnen. Man werde ihn anrufen. Dann hörte er nie wieder etwas von dem Trio. Stattdessen trudelten jede Menge Rechnungen bei ihm als „Geschäftsführer“ einer „Firma Metropol“ ein. „Auf meinen Namen wurden Autos, Radlader und Gabelstapler gekauft“, so der 37-Jährige gestern. Er erstattete Strafanzeige bei der Polizei – die ihm aber nicht helfen konnte. Einziger Ansprechpartner der ominösen Firma war er selbst – als „Geschäftsführer“. Jede Rechnung – die letzte eines ganzen Stoßes kam 2019 – gibt der Zeuge sofort weiter an seinen Anwalt.

Der Vorsitzende Richter legte dem Zeugen einen Handelsregisterauszug des Amtsgerichts Berlin-Charlottenburg vor, wonach der Bulgare 2013 als „Geschäftsführer der Firma Metropol“ eingetragen wurde. Dazu der 37-Jährige: „Mein Geburtsdatum stimmt, sonst nichts.“ Ihm gezeigte Dokumente wiesen nicht seine Unterschrift, sondern gefälschte Signaturen auf. Er kenne die Firma Metropol überhaupt nicht, unterstrich er. Wegen der ganzen Sache habe er inzwischen Schulden, betragsmäßig „großes Geld“. Resigniert meinte er, die Polizei habe ihm geraten, „sofort um Hilfe zu rufen, wenn er die drei Männer wieder sehen sollte“.

Verteidiger
zweifeln an Aussagen

Während die Verteidiger die Aussage in Zweifel zogen, von einem aufgebundenen „riesigen Bären“ und „Grimms Märchen“ sprachen“, konstatierten die Staatsanwälte Linda Arnotfalvy und Alexander Foff, der Zeuge sei wie „viele Leute reingelegt worden“.

Vom Angeklagten war auch gestern kein Wort zu vernehmen. Seine Anwälte streben eine Strafe mit Bewährung von nicht mehr als zwei Jahren an, während die Staatsanwälte mindestens vier Jahre Gefängnis als angemessen erachten. Die Verhandlung wird am Montag, 27. Juli, fortgesetzt.

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