Rosenheim – „O`zapft is!“ Kein zweites Ereignis auf dem Rosenheimer Herbstfest erregt jedes Jahr so viel Aufsehen wie das Anzapfen des ersten Bierfasses. Gabriele Bauer kennt sich damit aus. Die Ex-Oberbürgermeisterin hat von 2002 bis 2019 18-mal angezapft – und sich jedes Mal gewundert, warum so ein Wirbel um das Zeremoniell gemacht wird.
„Aber als Frau kann und muss man das vielleicht auch gar nicht verstehen“, lacht Bauer. Anzapfen also eine Männerdomäne? Von wegen. Die schlagkräftige Ex-OB spielte in der Anzapf-Bayernliga zwei Jahrzehnte lang ganz vorn mit und stahl ihren männlichen Kollegen regelmäßig die Schau.
„Mit zarter Hand stark angezapft“, titelten die OVB-Heimatzeitungen – eine Premiere nicht nur für Bauer, sondern auch fürs Herbstfest: Zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte durfte in Rosenheim eine Frau Tausenden durstigen Kehlen zurufen: „O`zapft is!“
Hier tröpferlfrei –
dort ein Biersee
Eine weite Ausholbewegung mit dem Schlegel, dann ein wuchtiger und beherzt-entschlossener Schlag, noch ein kräftiger Hieb hinterher, schon war der Wechsel, so heißt das Zapfzeug, im Fass – und das auch noch ganz tröpferlfrei. So kannte man die OB, Normalform sozusagen. Selten war ein dritter Stoß erforderlich, gepritschelt hat sie so gut wie nie.
Seit Jahrzehnten zapfen Landrat und Oberbürgermeister in Rosenheim abwechselnd im Flötzinger-Zelt und in der Auerbräu-Halle an. Gegen Bauer hatten die Männer – zuletzt Josef Neiderhell, Wolfgang Berthaler und Josef Huber – einen schweren Stand. Während der Rathauschefin Schlagzeilen wie „Applaus für eine Meisterleistung“ gewidmet waren, spritzte es bei den Landräten zum Teil so sehr, dass sie Momente später in einem kleinen Biersee standen.
„Zwei Schläge oder drei, trocken oder nass – das ist doch völlig egal“, versteht Gabriele Bauer die staatstragende Detailversessenheit nicht, mit der das Fest-Ritual begleitet wird. Das Anzapfen als Wissenschaft für sich – nicht für sie.
Und was wollen die Menschen eigentlich? Eine Antwort auf diese Frage hat Gabriele Bauer nicht gefunden. Sie schildert es so: War der Wechsel nach zwei trockenen Hieben im Fass, hieß es, „naja, Spektakel ist etwas anderes“. Und wenn sie doch pritschelte, was selten vorkam, sagten die Leute: „Um Gottes Willen, das haben wir schon viel besser gesehen.“ Einen ausgefeilten, eingeübten Technik-Fahrplan hat Bauer nicht: „Ich konzentriere mich halt“ – der Rest ist weibliche Intuition.
„Erfunden“ hat das feierliche Anzapfen übrigens Münchens Oberbürgermeister Thomas Wimmer. 1950 war das, Oktoberfesthistorikern zufolge hat es sich folgendermaßen abgespielt:
Mit grantiger Miene und brennender Zigarre kommt der Wimmer Dammerl, wie ihn alle nennen, vom Hang hinter dem Schottenhamelzelt herunter. Der OB nimmt den Abkürzer, weil es pressiert. Soeben hat er oben im Messegelände eine Elektroschau eröffnet.
Dann, im Schottenhamel, kommt es zur Sensation: Der Dammerl bindet sich, umringt von vielen Münchner Kindln und Fotografen, schmunzelnd den Schurz um, packt den nagelneuen Schlegel, der neben dem ersten Bantzen liegt, und schlägt den Messinghahn mit ein paar kräftigen Schlägen ins Fass.
Bier-Hierarchie auf den Kopf gestellt
Nichts Besonderes? Damals schon. Wimmer stellt damit die alte Bier-Hierarchie auf den Kopf. Kein Politiker oder Promi wäre vor ihm auf die Idee gekommen, auf der Wiesn ein Fass Bier anzuzapfen. Das war Sache des Schankkellners, der in der bunten Oktoberfest-Gesellschaft am untersten Ende der Pyramide stand. Politiker hingegen ganz oben, in einer Reihe mit den Brauereibesitzern, Bier-Aktionären und Großgastronomen. Danach kamen die großen Wirte, und bei deren Personal an unterster Stelle der Schankkellner.
Große Symbolik
des Anzapfens
Dass Wimmer nun die Hemdsärmel hochkrempelte und anzapfte, hatte 1950 die gleiche Symbolkraft wie sein zupackender Griff zur Schaufel, als es in München darum ging, Tonnen von Kriegsschutt wegzuräumen. Die Botschaft: Im Nachkriegselend darf sich niemand zu niedriger Arbeit, wie etwa der eines Schankkellners, zu schade sein – auch nicht der OB. Eine historische Krise erlebt Bayern auch 70 Jahre später. Erstmals fließt 2020 kein Bier – weder in München noch in Rosenheim. So muss ein großes Stück Lebensqualität weichen und Platz machen für die Erkenntnis, dass nichts selbstverständlich ist auf dieser Welt. So manches „bedeutende“ Ereignis wird an Tagen wie diesen zur schönen Nebensache degradiert – so wie das O`zapfa. Wer anzapft, und mit wie vielen Schlägen, ob überhaupt angezapft wird: „Das wäre meinen Rosenheimern heuer sicher egal, wenn sie nur auf ihre geliebte Wiesn gehen könnten“, so Gabriele Bauer. Sicher hat sie recht.