Rosenheim – Eine Gratwanderung: In den vergangenen Tagen bewegte sich Rosenheim an der kritischen Inzidenz-Marke von 50. Was sind die Gründe dafür? Und wie vermeiden wir den Lockdown? Wir sprachen mit Wolfgang Hierl, dem Leiter des Gesundheitsamts.
Wie ist der zuletzt explosionsartige Anstieg zu erklären?
Das Überschreiten des Schwellenwerts der Sieben-Tages-Inzidenz in der Stadt Rosenheim erklärt sich durch die Zahl der positiv getesteten Reiserückkehrer. Nach unserer Auswertung für August haben in Stadt und Landkreis mehr als drei Viertel (in der Stadt Rosenheim sogar 84 Prozent) der Erkrankten ihre Infektion im Ausland erworben. Hier stehen die Länder Kosovo, Bosnien und Herzegowina sowie Kroatien ganz im Vordergrund.
Warum der Balkan?
Neben den Urlaubern haben wir es hier mit Familienbesuchen zu tun, da kann es schwieriger sein, das Social-Distancing einzuhalten.
Rechnen Sie mit einem noch schlimmeren Wiederaufflammen der Corona-Pandemie?
Wiederaufflammen klingt dramatisch, das möchte ich so nicht sagen. Seit Anfang Juni hatten wir null bis drei, seit August sehen wir, dass die Zahlen wieder deutlich ansteigen. Wir haben viele Fälle durch die Reiserückkehrer, das spüren wir deutlich, und wir haben auch einige Ansteckungen im familiären Rahmen. Auch Anfang März ging es mit den Fallzahlen rapide rauf, und ich fühle mich fatal an März erinnert, als wir die Rückkehrer aus den Skigebieten hatten, verbunden mit einem exponentiellen Anstieg an Neuerkrankungen. Unsere Zahlen sehe ich mit Unbehagen.
Sind Reisen zu früh zugelassen worden?
Da hat die Politik bewusst und sehr verantwortungsvoll entschieden, zu einem Zeitpunkt, da die Situation in Bezug auf Neuansteckungen noch günstig war. Wenn man immer wüsste, wo es wann nach oben geht, ja, vielleicht hätte man einiges anders gemacht. Aber im Großen und Ganzen waren die Entscheidungen richtig, ebenso wie die Reisewarnungen und die umfangreichen Testungen in Bayern jetzt.
Tja, Reisewarnungen… Halten sich die Menschen dran?
Ich war nun noch nicht im Ausland, denke aber, dass die Menschen sich dort so gut oder so wenig daran halten wie hier. Es kommt darauf an, wo man hinfährt. Klar, beim Wandern und dem Outdoor-Urlaub ist man auf der sicheren Seite. Andererseits ergibt es sich überall dort, wo jüngere Menschen Urlaub machen, dass man sich abends trifft und die Regeln nicht mehr unbedingt einhält.
Wie halten hier die Menschen Regeln ein?
Wer in die Stadt, oder in den letzten Wochen an die Seen gegangen ist, hat gesehen, dass es da schon eng zugeht. Ich kann es verstehen, ich gehe selber gern zum Baden. Jeder weiß, dass es wichtig ist, Abstand zu halten, aber es ist nicht immer gut möglich. Ich denke, dass die überwiegende Zahl der Menschen sehr bewusst mit dem Thema umgeht. Es gibt aber auch Personen, die nicht den geringsten Wert darauf legen, die mit andern ohne Maske zusammenstehen, den Abstand nicht wahren. Da beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Das könnte das nächste Superspreading-Ereignis sein. Wir müssen dann bei einer Vielzahl von Erkrankten und Kontaktpersonen ermitteln und Infektionsschutzmaßnahmen anordnen. Das Virus ist uns doch in diesen Fällen ohnehin immer einen Schritt voraus, auch deswegen, weil man es auch übertragen kann, wenn man selber noch keine Symptome spürt. Wenn wir dann ermitteln, stellen wir manchmal fest, dass die Kontaktpersonen auch schon krank sind und wiederum weitere Menschen angesteckt haben.
Können wir einen neuen Lockdown vermeiden?
Unser Bestreben ist es jedenfalls, genauso wie es Ziel der Politik ist. Weder wirtschaftlich noch gesellschaftlich können wir uns das leisten. Der Lockdown kann überhaupt nur die letzte Maßnahme sein. Davor kommen breit angelegte Testungen und, etwa bei einem Verdachtsfall in einer Schulklasse oder einer Kita-Gruppe, strenge Maßnahmen, dass die entsprechenden Kontaktpersonen in der Klasse oder Gruppe in Quarantäne schickt, bis Klarheit herrscht. Übersteigt die Zahl der Neuerkrankten eine kritische Schwelle, müssen auch zusätzliche kontaktbeschränkende Maßnahmen fachlich geprüft werden. So sind wir auch letzte Woche in der Stadt Rosenheim verfahren. Gemeinsam mit der Stadt haben wir nach Überschreiten der Warnschwelle der Sieben-Tages-Inzidenz von 50 Fällen in den letzten sieben Tagen bezogen auf 100000 Einwohner kontaktbeschränkende Maßnahmen geprüft, die dann von der Stadt eingeführt wurden.
Wie sind wir gerüstet?
Wir versuchen, die Infektionsketten so schnell wie möglich durch Anordnung häuslicher Quarantäne bei Erkrankten und Kontaktpersonen zu unterbrechen. Wir sind weiter, als wir Anfang März waren. Gerade Testungen waren ja seinerzeit ein Manko. Die Kapazitäten waren gering, und aufgrund des Mangels an Schutzausrüstung wurde nur in geringem Umfang getestet. Jetzt soll bald das kommunale Testzentrum an der Loretowiese starten. Und vieles ist eingespielt, wir pflegen engen Kontakt zum Beispiel zu Kliniken, Pflegeeinrichtungen, Ärzten, Gemeinden und dem Katastrophenschutz. Wir können besser und schneller reagieren als vor einem halben Jahr.
Interview: Michael Weiser