Rosenheim – Höher, schneller, weiter – größer, besser, moderner: Die imposante Zahlenwelt des Rosenheimer Herbstfests ist seit Jahrzehnten beliebter Lesestoff bei allen Wiesn-Fans.
Was hat der OVB-Redaktionsigel Ignaz nicht schon alles erfahren, herausgefunden, ausgerechnet und „aufgedeckt“: Rasantestes Fahrgeschäft in km/h, Tageslaufstrecke der Bedienung in Kilometern, Schluck pro Mass, kaputte Masskrüge und gestohlene Bestecke in exakter Stückzahl. Längst nur noch eine Pflichtübung: Schläge beim Anzapfen, Schausteller, Wiesnverbote, Raufereien oder gezwickte Führerscheine.
Doch es gibt sie immer noch, die große Wiesn-Geheimnisse: Wie viele Mass Bier getrunken, Hendl gegessen werden oder Essen verkauft werden, das verraten die Brauereien nicht – ein Betriebsgeheimnis, das sie hüten wie die Rezeptur für ihr süffiges Wiesnmärzen. Ebenso verhält es sich mit der Gesamtbesucherzahl auf der Wiesn und einer präzisen Angabe zur Kapazität der beiden Bierburgen. Auch sie sind dem Wiesnigel Ignaz stets ein Rätsel geblieben.
Und wenn der Igel in seiner Daten-Not einmal ein Zahlenspiel gewagt hat, dann musste er seinen Kopf schnell einziehen und die Stacheln ausfahren, damit es ihm nicht an den Kragen geht. So etwa 2014, als er folgende Rechnung im Konjunktiv machte: Wenn man einmal annimmt, dass es im Flötzinger-Zelt und in der Auerbräu-Halle samt Ochsenbraterei zusammen rund 16500 Plätze gibt und an einem Sitzplatz im Schnitt sechs Mass und drei Essen pro Tag verkauft werden, dann wären das rund 100000 Mass Bier und 50000 Essen, die an einem Wiesntag getrunken und verzehrt werden.
16500 Sitzplätze, inklusive Biergärten und Balkone, bieten Flötzinger-Festzelt (9500) und Auerbräu-Festhalle (7000) – wenn das Online-Lexikon Wikipedia mit diesen Zahlen richtig liegt. Die Brauereien selbst haben in den vergangenen Jahren zur Kapazität ihrer Bierburgen keine Angaben gemacht und den Wikipedia-Eintrag auch nicht kommentiert.
750000 Besucher und 430000 Mass Bier
Diese Geheimniskrämerei gab es früher nicht. So berichtete unsere Zeitung vor genau 50 Jahren nach der Wiesn 1970: „Trotz heftiger Regenschauer steigende Tendenz: Auf die Rosenheimer Wiesn kamen 750000 Besucher, 430000 Mass Bier wurden ausgeschenkt.“
Das waren 50000 Besucher mehr und 300 Hektoliter mehr als 1969, die Bilanz war wieder einmal prächtig: „Die 30000 Liter, die heuer mehr die Kehlen hinunterrannten als 1969, waren nicht die einzige Konsumsteigerung auf der Loretowiese“, schrieb das OVB. So vermeldeten die Fahrgeschäfte zehn Prozent mehr Umsatz, die Lebensmittelverkäufer sogar 15 bis 20 Prozent.
Doch aus einem angestrebten Rekord wurde es trotzdem nichts. Eigentlich hatte der Wirtschaftliche Verband (WV) als Veranstalter eine neue Bestmarke mit 800000 Besuchern ins Auge gefasst. Schlechtwetter verhinderte das, speziell der mittlere Wiesn-Samstag war total verregnet.
Trotz moderner Techniken im digitalen Datenzeitalter – so konkrete Besucherzahlen wie 1970 gibt es im neuen Jahrtausend nicht mehr. „Rund eine Million“ oder „über eine Million“ – das sind seit Langem die gängigen und eher schwammigen Formulierungen zur Wiesn-Besucherzahl.
Zahlentricksereien
auf dem Oktoberfest
Aber lieber keine Zahlen als falsche Zahlen – wie auf dem Münchner Oktoberfest. Dort war 2015 bekannt geworden, dass jahrelang eine große Lücke zwischen vermeldetem und tatsächlichem Bierkonsum klaffte. 2014 zum Beispiel, da waren es nicht nur 6,5 Millionen Mass, sondern 7,7.
2020 verspürt der arbeitslose Wiesnigel Ignaz nun auf einmal gar keine Lust mehr darauf, seine Spürnase in die Bilanzen zu stecken und die letzten Wiesn-Geheimnisse zu lüften. Wie viel Bier fließt, das ist ihm auf einmal völlig wurscht. Weil null Mass – nie war eine Zahl präziser, richtiger und trauriger – in jedem Fall viel zu wenig sind.