Rosenheim – Gesundheitsminister Jens Spahn hat die Bevölkerung zur Grippeimpfung aufgerufen. Im gleichen Atemzug hat er verkündet, es gebe Millionen von Impfstoffen. Doch die Realität zeichnet offenbar ein anderes Bild. Aus der Region Rosenheim hagelt es viel Kritik.
Odyssee für Privatpatienten
Seit Jahren lässt sich Johann Pelzl (67), Pensionär, gegen Grippe impfen. Doch heuer entwickelte sich die Suche nach einem Impfstoff für den Rosenheimer zur Odyssee. Denn als Privatpatient muss er sich für gewöhnlich den Impfstoff selbst organisieren: „Heuer habe ich sechs Apotheken abgeklappert, bis ich endlich eine Dosis bekommen habe.“ Doch nicht nur Privatpatienten kommen schwer an die Impfstoffe, auch viele Arztpraxen aus der Region berichten von einem Engpass.
So auch Dr. Fritz Ihler, Vorsitzender des Ärztlichen Kreisverbands Rosenheim. Die Aussagen von Spahn stünden in krassem Gegensatz zu der Lage in den Praxen. „Da sieht man, wie weit sie von der Realität weg sind.“ Im Sommer fragen laut Ihler Apotheken und die Kassenärztliche Vereinigung an, wie viele Dosen die Praxen benötigen. „Meist orientiert man sich an der Vorjahresmenge.“ Zugleich würden Kassenärzte angemahnt, nicht über die Maßen zu bestellen. Die Impfstoffe würden allerdings nicht auf einmal geliefert, zwischen den einzelnen Lieferungen gebe es immer eine Lücke, wie gerade eben. An sich nichts Ungewöhnliches.
Doch nicht alle Patienten reagieren verständnisvoll. Absolut nachvollziehbar, findet der Mediziner. „Die Menschen sind motiviert und wollen sich impfen lassen. Die Lage aktuell ist nicht gerade förderlich für das Vertrauen in die Ärzte.“
Nachfrage schwer
zu kalkulieren
Dr. Reiner Keller mit Privatpraxis in Bad Aibling weiß: „Aktuell ist es ein Riesenstress für alle Beteiligten.“ An den Apotheken liege es nicht, ist er sicher. Noch vor Jahren war die Situation laut dem Arzt umgekehrt. Damals hat er für die Privatpraxis die Impfdosen selbst bei den Apotheken besorgt, aber die Impfstoffe sei er nicht losgeworden. „Die Nachfrage ist immer schwer zu kalkulieren.“ Doppelt so viele Impfstoffe wie im Vorjahr hat Dr. Florian Bonke mit Praxis in Flintsbach bestellt, aus einem einfachen Grund: „Wir sind davon ausgegangen, dass durch die Corona-Krise das Gesundheitsbewusstsein der Menschen deutlich steigt.“ Die Rechnung sei aufgegangen. Sonst hätte die bestellte Menge für fünf Monate gereicht, nun ist sie nach einem Monat bereits aufgebraucht. Über die genaue Menge möchte er allerdings nicht sprechen. Der Mediziner steht im engen Austausch mit den Apotheken, hofft auf eine Lieferung im November. Er geht davon aus, dass heuer die Impfbereitschaft schlichtweg unterschätzt wurde. Seine Patienten seien mehr als nachsichtig. „Wir haben ihnen schon im Vorfeld gesagt, dass es wahrscheinlich knapp werden könnte und sie sich lieber zeitnah impfen lassen sollen.“ Die Warteliste in seiner Praxis werde immer länger. Dr. Nikolaus Klecker, Bezirksvorsitzender im Bayerischen Hausärzteverband, blieb in seiner Rosenheimer Praxis von diesem Problem laut eigenen Angaben noch unberührt. „Aber von meinen Kollegen habe ich davon erfahren.“
Etwa Dr. Reinhard Kuppler aus Rosenheim ging der Impfstoff schon vor zwei Wochen aus. „Und das, obwohl wir das Doppelte von dem bestellt haben, was wir üblicherweise brauchen.“ Mit seinen Kollegen teile er sich eine große Praxis – umso ärgerlicher sei hier ein Engpass.
Dr. Josef Weigl senior mit Praxis in Wasserburg findet drastische Worte: „Die Lage ist katastrophal“. Er habe eine Warteliste mit über 150 Patienten. Entsprechend wütend ist er: „Das sind große Sprüche der Politiker, aber die Realität sieht ganz anders aus.“ Nur tröpfchenweise kämen die Impfstoffe. Dazwischen lägen immer wieder zwei Wochen, in denen nichts vorwärts gehe. So wie aktuell: „Jetzt wäre doch eigentlich die Chance gewesen, dass sich mehr Leute impfen lassen.“ Doch nicht nur der Grippeimpfstoff ist knapp. Auch Vakzinen gegen Lungenentzündung würden nicht geliefert. „Für manche Patienten ist das lebensgefährlich.“