Rosenheim – Die Inzidenzzahl schwebt dieser Tage wie ein Damoklesschwert über den Regionen in ganz Bayern – insbesondere nach dem von Ministerpräsident Markus Söder verhängten Lockdown über das Berchtesgadener Land. Dort hatte sich innerhalb weniger Tage die 7-Tage-Inzidenz (Fälle pro 100000 Einwohner binnen sieben Tagen) und damit der Indikator für verschärfte Corona-Regeln vervielfacht auf zuletzt 236.
Die Region Rosenheim ist davon noch ein gutes Stück entfernt mit aktuell 81,8 im Stadtgebiet und 73,9 für den Landkreis. Doch das Unbehagen angesichts steigender Fallzahlen – allein +30 im Landkreis von Montag auf Dienstag – wächst. Gleichzeitig fühlt sich insbesondere Rosenheim als kreisfreie Stadt mit deutlich unter 100000 Einwohnern ungerecht behandelt. Die Stadtspitze fordert deshalb, auch andere Kriterien für Restriktionen heranzuziehen.
Stadt immer wieder
in den Schlagzeilen
Denn wie schnell die Warnmarken von 35 und 50 gerissen werden – davon kann Rosenheim ein Lied singen. Seit dem Frühjahr, zur Hochphase der ersten Welle, machte die Stadt regelmäßig Schlagzeilen als „Corona-Hotspot“. Was nicht nur Wirtschaftsdezernent Thomas Bugl, sondern auch vielen Geschäftsleuten und Einzelhändlern Sorgenfalten ins Gesicht treibt. „Jedesmal, wenn Rosenheim als Hotspot in den Schlagzeilen steht, ist die Stadt wie ausgestorben“, beklagt Bugl.
Das ist nach Ansicht der Stadtspitze nicht immer gerechtfertigt. Denn der Schwellenwert, also die Inzidenzzahl von 50, würde aufgrund der vergleichsweise geringen Einwohnerzahl Rosenheims von rund 63500 Menschen extrem schnell erreicht, erklärt Bugl.
Wie das? Denn schließlich würden doch auch für kleinere Städte die Fallzahlen in Relation zu 100000 Einwohnern gesetzt und entsprechend umgerechnet. Genau das sei der Punkt, erklärt der Stadtsprecher: Jeder positiv Getestete würde aufgrund der Hochrechnung mit einem Multiplikator von 1,6 versehen. „Bei uns reichen also schon 32 Positivfälle innerhalb einer Woche, dass wir über 50 sind“, rechnet er vor.
Das genaue Gegenteil sei im Landkreis Rosenheim der Fall: Mit seinen gut 261000 Einwohnern sei hier der Multiplikator pro Covid-19-Fall bei etwa 0,4. „Jeder Infizierte zählt also in der Stadt viermal so viel wie im Landkreis“, klagt der Sprecher. Für ihn eine „indikatorbedingte Fehlstellung“. Bugl weiter: „Die Unwucht in diesem System ist gigantisch.“ Das Problem sieht Rosenheim insbesondere darin, dass Corona-Fälle häufig in kleinteiligen Clustern auftreten. „Zum Beispiel in Altenheimen, Schulen, Asylunterkünften oder zuletzt dem Superspreader-Event mit 14 positiven Fällen in vier Familien“, erläutert Bugl. Das würde in kleineren kreisfreien Städten stärker zu Buche schlagen als in einem großen Landkreis.
Region als eine Einheit betrachten
Einen Ansatz für eine reellere Abbildung der Gesamtlage sieht Bugl darin, die Inzidenzzahl von Stadt und Landkreis als eine Einheit zu betrachten – entsprechend dem Aufgabengebiet des Staatlichen Gesundheitsamtes. „Dann wäre die Gefahr, dass Rosenheim sehr schnell zum Hotspot wird, geringer“, ist Bugl überzeugt.
Die Krux mit der Inzidenzzahl ließ die Stadtspitze sogar soweit gehen, dass sie sich in einem Schreiben an Ministerpräsident Söder wandte. Tenor: nicht nur allein diesen Schwellenwert für die Beurteilung der Lage einer Region heranzuziehen, sondern auch andere Kriterien zu berücksichtigen: die Testquote – je mehr getestet wird, desto mehr Treffer; die stationär behandlungsbedürftigen Covid-19-Patienten in den Kliniken – die in Rosenheim „stabil auf niedrigem Niveau“ sei; und die aktuelle Mortalität, also die Sterblichkeitsrate, die bis zuletzt in der Region wochenlang gegen null tendiert hatte und erst dieser Tage mit zwei Todesfällen wieder angestiegen ist (gesamt 224 in Stadt und Landkreis).
Die vorschnelle Bezeichnung der Stadt Rosenheim als „Corona-Hotspot“ sieht die Stadtspitze um Oberbürgermeister Andreas März, der bei diesem Vorstoß von Romed-Geschäftsführer Dr. Jens Deerberg-Wittram unterstützt wurde, als einen „irreführenden Alarmismus“, der „die Bevölkerung in unserer Region unnötigerweise verunsichert und negative Folgewirkungen mit sich bringt“.
Statt weiterer Einschränkungen oder gar einem neuerlichen Lockdown, so die Rosenheimer Forderung, solle man vielmehr den Blick auf den gezielten Schutz vor Infektion bei stark gefährdeten Menschen („hohes Alter, Übergewicht, Ko-Morbiditäten“) richten – mit geeigneten, zielorientierten Maßnahmen. März und Deerberg-Wittram warnten zudem vor der Gefahr einer nachlassenden Akzeptanz der Einschränkungen in der Bevölkerung, sollte die Entscheidung einzig auf der Inzidenzzahl basieren.
Forderungen und Argumente aus Rosenheim, die in diesen Tagen längst von der zweiten Corona-Welle überrollt wurden. Stadt oder Landkreis, zusammen oder einzeln betrachtet, haben beide in aller Deutlichkeit die kritische Marke von 50 gerissen. Die verschärften Corona-Regeln der Staatsregierung wie Maskenpflicht für alle Schüler oder Treffen und Feiern begrenzt auf maximal fünf Personen beziehungsweise zwei Haushalte greifen seit Wochenbeginn. Daran ist nach dem Kabinettsbeschluss von vergangener Woche und der Aktualisierung der 7. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung nun auch auf lokaler Ebene nichts mehr zu rütteln.
Neu: Maske auf in
der Fußgängerzone
„Ober schlägt Unter“, meint dazu der stellvertretende Sprecher der Stadt Rosenheim, Christian Schwalm. Entsprechend überarbeitete die Stadt ihre Allgemeinverfügung ein weiteres Mal. Von heute, Mittwoch, an gilt die Maskenpflicht auch auf öffentlichen Plätzen wie den Fußgängerzonen (Max-Josefs-Platz, Münchener Straße, Salzstadel, Ludwigsplatz).
Auch der Landkreis feilt erneut an seiner Allgemeinverfügung. Die Maskenpflicht auf öffentlichen Plätzen in der Region, darunter beispielsweise der Marienplatz in Bad Aibling, die Ortsmitte von Prien oder die Altstadtgassen von Wasserburg, soll vorerst aber ausgelassen werden. Die Kreisbehörde wie auch die Städte sähen aktuell keinen Bedarf. Das hat nach Angaben von Sprecher Michael Fischer eine Abfrage bei den Kommunen ergeben.