Rosenheim – Deutschland trifft es hart, Rosenheim noch härter: Bereits heute, Freitag, setzt um 21 Uhr in der kreisfreien Stadt der Lockdown ein, wie auch in Augsburg. Im Rest des Bundesgebietes wird das öffentliche Leben erst am Montag, 2. November, stillgelegt.
„Ich bin über diese vorgezogenen Beschränkungen, speziell für den Bereich der Gastronomie, außerordentlich unglücklich“, sagte Oberbürgermeister Andreas März (CSU) in einer ersten Reaktion auf die Anweisung aus München. „Im Hinblick auf den notwendigen Infektionsschutz der Bevölkerung war eine für die Gastronomie günstigere Lösung aber nicht mehr möglich.“ Den Grund für den Frühstart sieht die Staatsregierung in den bedenklichen Zahlen: Rosenheim liegt beständig über einer Inzidenzzahl von 250.
Derweil regt sich gegen die drastischen Maßnahmen Widerstand, auch innerhalb der CSU. Daniel Artmann, Vorsitzender der JU Oberbayern, kritisiert gemeinsam mit seinem niederbayerischen Kollegen Benjamin Taitsch vor allem die Zwangspause für Gaststätten als nicht verhältnismäßig. In einem gemeinsamen Papier betonen die beiden JU-Chefs die geringe Ansteckungsgefahr in Gaststätten. Laut Robert-Koch-Institut finden lediglich 0,5 Prozent der Ansteckungen in der Gastronomie statt.
Daniel Artmann, zugleich Zweiter Bürgermeister der Stadt Rosenheim, weist auf die besonderen Anstrengungen der Wirte hin. „In der Gastronomie gibt es funktionierende Hygienekonzepte und die Aufnahme der Kontaktdaten“, sagt er.
Für die Gastronomie machte sich gestern auch Rosenheims Oberbürgermeister stark. In den Unterredungen mit der Regierung von Oberbayern und der Staatsregierung drängte März offenbar auf eine Fristverlängerung für Rosenheim – im Interesse der Wirte. Ein Teilerfolg könnte ihm gelungen sein, war doch in ersten Gerüchten gestern von einem Lockdown ab 18 Uhr die Rede gewesen.
Ein überraschender, vorgezogener Lockdown, direkt vor dem Wochenende: Für manchen Wirt ist das dennoch weniger eine Vollbremsung als vielmehr ein Crash. „Ich bin mir auch bewusst, dass eine so kurze Vorlaufzeit Gift für die Vorratsplanungen der Gastronomen ist“, sagte März. „Mehr war aber beim besten Willen nicht möglich.“
Viele Mühen,
wenig Ertrag
Ob früher oder späterer Lockdown – allenthalben stehen Wirte vor den Trümmern ihres Geschäftsjahres und ihrer Planungen. Etwa Lorenz Hilger, Wirt vom „Hirzinger“ in Söllhuben. Seit 500 Jahren besitzt der Gasthof die „Tafern-Gerechtigkeit“. Solch harte Einschnitte wie nun in der Corona-Pandemie sind aber auch in einer Wirtshausgeschichte von einem halben Jahrtausend ohne Beispiel. „Wir haben alles mit Plexiglaswänden verkleidet und abgetrennt, haben überall Spender für Desinfektionsflüssigkeit aufgestellt, haben ein Hygienekonzept aufgestellt, und jetzt…“ Hilger lässt den Satz unvollendet.
Wie ihm geht es zahlreichen Wirten in der Region. Nachdem das Geschäft nach dem Lockdown im Frühjahr langsam und mit stark verminderter Intensität wieder angelaufen war, trifft der neue Lockdown viele Betreiber von Gaststätten hart. Die versprochene Hilfe dürften viele zum Überleben benötigen. „75 Prozent des Vorjahres-Novembers, das ist immerhin ein Lichtblick“, sagt Lorenz Hilger. Sein Gefühl ansonsten, vor dem Beginn eines besonders düsteren Monats? „Man kommt sich verlassen vor, vom Staat und von den Leuten. Als ob wir an Corona schuld wären.“
Flucht in
Privatpartys?
Die Stimmung ist im Keller. Manchmal auch ganz real. Schlagzeilen machte vor einiger Zeit eine private Kellerparty in Eggstätt, in der sich rund 30 Gäste infiziert haben sollen. Der Trend könnte sich, so fürchten Kritiker des Lockdowns, verstärken. Es sei damit zu rechnen, „dass über das Wochenende viele Rosenheimerinnen und Rosenheimer in benachbarte Landkreisgemeinden und die dortigen Gastronomiebetriebe ausweichen werden“, sagte Andreas März. Eine letzte hektische Kneipentournee könnte die Ausbreitung der Pandemie anheizen, befürchtet Wirtschaftsdezernent Thomas Bugl.
Wenn dann alles dicht hat, geht die Flucht der Menschen womöglich weiter. „Um so mehr man uns die Leute wegnimmt, desto mehr treffen sie sich daheim“, sagt Lorenz Hilger. „Wenn man das kontrolliert bis zehn oder elf zulässt, dann treibt man die Jugend nicht in die Partykeller.“ Das eben fürchtet auch Artmann: „Es droht das Abwandern ins Private.“
Die Diskussion dürfte Fahrt aufnehmen. Es sei die Frage nach dem verfassungsrechtlichen Gut der Verhältnismäßigkeit zu stellen, sagt Bugl. Auch Artmann meldet Gesprächsbedarf an. „Wenn man merkt, dass eine Maßnahme kontraproduktiv ist, dann darf man das auch mal diskutieren“, sagt er. „Ich sehe mich nicht als Abnicker.“