Rosenheim/Brannenburg – Offenherzig, emotional, ausdrucksstark, stimmgewaltig: Das ist Julia. Und es gibt wohl kein zweites Mädchen, keine zweite junge Frau, die sich so mitreißend, hörbar und laut freut, wenn der Arzt kommt. „Brüüüückmann“ ruft sie schon von Weitem, wenn sie ihn sieht.
„Für unsere Buben und Mädchen ist Dr. Christian Brückmann fachlich und menschlich einfach der beste Kinderarzt der Welt“, sagt Alexandra Huber, die Leiterin des Christophorus-Hauses. Im Fall von Julia ist „Brüüüückmann“ aber noch viel mehr. Er kümmert sich nicht nur medizinisch um ihr großes Kämpferherz, er erledigt auch ihren Papierkram: Als Julia nach dem Tod ihrer Eltern auf einmal allein da stand, übernahm der Brannenburger Kindermediziner sowohl Vormundschaft als auch Betreuung.
Schon eine außergewöhnliche Geschichte, aber irgendwie auch typisch. Denn es ist diese Nähe zu den Buben und Mädchen, die das Haus Christophorus so einzigartig und wertvoll macht.
Die Zeit steht nie still, ein Menschenherz aber schon
Julia ist 2009 als zwölfjähriges Mädchen nach Brannenburg gekommen, heute ist sie eine junge Frau mit 23. Ja, die Zeit vergeht wie im Flug. Sie steht nie still, ein Menschenherz schon. Im Fall von Julia sogar dreimal: erst ihr eigenes, dann das Herz der Mutter, schließlich das des Vaters.
So viele Schicksalsschläge und Tragödien in einer Familie – eigentlich unfassbar. Julia kommt im November 1997 zur Welt, im Zeichen des Skorpions und der Sklerose – eine Erbkrankheit mit Fehlbildungen im Gehirn, angeborener Epilepsie, angeborenem Herzfehler.
Trotzdem wächst das Mädchen heran, leider auch die gutartigen Tumore an Herz und Nieren. Immer wieder muss Julia operiert werden. Einmal kommt es zu einem längeren Herzstillstand. Julia wird erfolgreich reanimiert, aber das Gehirn nimmt erneut Schaden.
2009 dann der Einzug ins Haus Christophorus. Eigentlich soll es nur für kurze Zeit sein. Die Mama ist an Krebs erkrankt, aber vielleicht schlägt die Therapie ja an und die Tochter kann bald wieder heim.
Immerhin: Julia fühlt sich auf Anhieb wohl in Brannenburg. Die Betreuerinnen weichen dem Mädchen nicht von der Seite, selbst wenn es zum Arzt oder ins Krankenhaus muss – und das kommt wegen der langen und komplexen Krankengeschichte häufig vor.
Also bleibt Julia da. Zumal das Schicksal daheim erbarmungslos zuschlägt: 2011 stirbt die Mutter. Da ist sie 14. Drei Jahre später liegt der Vater tot in der Wohnung – Herzinfarkt. Mit 17 ist Julia Vollwaise.
Das Schicksal des Mädchens lässt niemanden kalt im Haus Christophorus – auch nicht den „Hauskinderarzt“. So kann man Dr. Christian Brückmann (63) ruhig nennen. Jeden Dienstag kommt er zur Visite, im Notfall ist er Tag und Nacht für die Kinder da, seit 29 Jahren schon.
Brückmann, Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, kennt alle Höhen und Tiefen der Kinder, Stärken und Schwächen, ihre Vorlieben, Marotten, Besonderheiten. Alle sind sie ihm ans Herz gewachsen. Julia sogar besonders.
Kein Wunder, denn mit der aufmerksamen und höflichen jungen Frau, die mit ihrem Rollstuhl erstaunlich mobil und flott unterwegs ist, kann man wunderbar-witzige Gespräche führen. Ist ein Vorschlag nach ihrem Gusto, sagt sie: „Guuuter Plan.“ Die Bitte, das Herumtrödeln einzustellen und Tempo zu machen, kontert sie mondän-international mit „Time is moooney“. Wenn dagegen beim Essen etwas daneben geht, schaltet sie eher in den bodenständig-bayerischen Sprachmodus: „Ooomeeeiomei.“
Schön und gut. Doch die Vormundschaft und Betreuung für ein fremdes Kind übernehmen? Das ist eine große Verantwortung und viel Bürokratie dazu. Brückmann weiß das. Aber Julia ist ihm ja alles andere als fremd. So überlegt er nicht lang. Er macht es. Sechs Jahre ist das her. Drei volle Leitz-Ordner hat der Arzt nun daheim stehen: die Korrespondenz mit Krankenkassen und Behörden.
Für Julia ist das ein Segen. Das Wichtigste: Sie kann im Haus bleiben, alle haben sich erfolgreich dafür eingesetzt. Sie besucht die Philipp-Neri-Schule im Rosenheimer HPZ. Dann kommt der Juli 2019, das Ende der Schulzeit. Aus Julia ist eine junge Frau geworden. Das heißt: Sie muss ausziehen.
Auf einmal irgendwo anders zurechtkommen müssen? Ohne die anderen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen im Haus Christophorus? Ohne ihre vertrauten Betreuerinnen? Ohne Brückmann, ihren Arzt und amtlich bestellten Alleskümmerer, ihren Fürsprecher und Papa-Ersatz? Man muss kein Psychologe sein, um es sich auszumalen. Da wäre eine Welt zusammengebrochen. Aber nun hat Julia mal Glück. Genau zum richtigen Zeitpunkt wird ein Platz im Erwachsenenbereich frei. Sie kann bleiben: – „Suuuper-guuuter Plan!“
Tolle Resonanz
auf „Bernhards
süße Welt“
Glück haben auch alle anderen. Julia ist mit ihrer sozialen, ausgleichenden Art ein Gewinn für jede Gemeinschaft. Sie übernimmt Botengänge, rollt von einer Wohngruppe zur anderen – Mobilität ist Lebensfreude. In „Bernhards süße Welt“ – die gleichnamige Reportage hat diese Woche eine großartige Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst – dringt Julia auch nicht ein. „Sie mag nur herzhafte Sachen, Bernhards Pudding oder Joghurt rührt sie selbstverständlich nicht an“, lacht Brückmann.
Die Hobbys von Julia: reiten, Gesellschaftsspiele, tanzen, Musik hören, Bücher lesen, Fernsehen. Die Förderstätte der Caritas-Wendelsteinwerkstätten Raubling, die sie seit Sommer 2019 besucht, ist nur fünf Autominuten weg. Umso besser, denn „time is moooney“.
Und Dr. Brückmann? Der empfindet sein Engagement gar nicht als emotionale Einbahnstraße: „Es ist immer wieder bereichernd und faszinierend, wenn man sieht, was für ein unglaublich lebenswertes Leben die Kinder und erwachsenen Bewohner hier führen.“ Am Dienstag, bei der nächsten Visite, kann er sich erneut davon überzeugen. Wenn es wieder heißt: „Brüüüückmann.“
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