Rosenheim – Der Druck im Kessel steigt. Am heutigen Mittwoch konferieren die Ministerpräsidenten mit Kanzlerin Angela Merkel. Wir sprachen mit Machern und Entscheidern in einer gespaltenen Region. Wie viel Lockerung verträgt die Region? Da ist die Buchhändlerin, die weiß, dass ihre Kunden stöbern müssen, um zu finden, wonach sie gar nicht gesucht haben. Da ist die Modeverkäuferin, die weiß, dass der textile letzte Schrei am eigenen Körper oft anders aussieht als im Online-Katalog. Da ist der Schuhhändler, für den die Unterstützung kaum ausreichen wird, um die laufenden Kosten zu decken.
Von all diesen Stimmen war zuletzt in den OVB-Heimatzeitungen zu lesen. Und: Der Ton der Klagen wird schärfer. „Als Einzelhändler fühlen wir uns als Schlachtopfer der maßgeblich von der CSU verantworteten Corona-Politik“, schrieb Maria Reiter, Rosenheimer Ortsvorsitzende des Handelsverbandes Bayern. „Wir fühlen uns weitgehend im Stich gelassen.“
Die Klagen
werden lauter
Die Klagen über Umsatzeinbußen und Ungerechtigkeiten sind laut und lauter geworden. In der Gastronomie, die als erste schließen musste – und absehbar als letzte wieder öffnen wird. Man habe es satt, den Sündenbock zu spielen, meint Theresa Albrecht aus Rohrdorf, Vorsitzende des Kreisverbandes des Hotel- und Gaststättenverbandes. „Wir sind nicht die Pandemietreiber“, sagt sie. Als „sehr bedrohlich“ für den Tourismus bezeichnet Christina Pfaffinger, Geschäftsführerin von Chiemsee-Alpenland-Tourismus, die Situation.
Bevor sich am heutigen Mittwoch die Ministerpräsidentenrunde mit Kanzlerin Merkel berät, steigt der Druck. Von Unternehmern aus der Region, zusammengekommen in der sogenannten „Dinzler-Runde“ (siehe unten), bekommt die gesamte Politik parteiübergreifend Klage und Warnung ins Stammbuch geschrieben. Man wehre sich gegen die zunehmende Bevormundung seitens der Politik. In der Corona-Krise seien durch „zwanghafte Eingriffe“, Einseitigkeit und Hinhalte-Strategien „Vertrauen und Glaubwürdigkeit vollständig verspielt“ worden.
Einer, der zwischen den Stühlen sitzt, ist Rosenheims Oberbürgermeister Andreas März (CSU), als Vertreter der Politik, aber auch als Oberhaupt einer Stadt, der ihr wirtschaftliches Herz abhanden kommen könnte – wenn die befürchtete Pleitewelle einsetzt und die Innenstadt verödet. Er sieht wenig Raum für Öffnungen über die Aufhebung der Maskenpflicht in der Innenstadt hinaus. „Der Spielraum für Lockerungen der Corona-Maßnahmen ist angesichts des Wiederanstiegs der Inzidenz für die Stadt Rosenheim auf über 50 leider ziemlich überschaubar“, sagt März. Schon was die Pause von der Maskenpflicht betreffe, gelte, dass man das Infektionsgeschehen im Blick haben müsse. „Sollten die Infektionszahlen in noch kritischere Bereiche steigen, muss wieder gegengesteuert werden.“
Was sagen
Mediziner?
Die Frage aller Fragen derzeit: Wie entwickelt sich Corona weiter, welchen Einfluss auf das Geschehen haben die Mutationen, die spätestens seit Jahresbeginn in der Region zirkulieren?
Dr. Wolfgang Hierl sieht als Leiter des Staatlichen Gesundheitsamtes in Rosenheim die Rufe nach Lockerungen angesichts steigender Fallzahlen und vor allem der Verbreitung der Varianten kritisch. Der Anstieg der Sieben-Tage-Inzidenz auf zuletzt knapp unter 100 im Landkreis sei zum großen Teil durch die hohe Zahl an Neumeldungen der britischen Variante (B.1.1.7) zu erklären. Um die Zahl 260 herum bewegt sich mittlerweile in der Region Rosenheim die Zahl der festgestellten Infektionen durch die Mutation. Man befinde sich womöglich „am Beginn einer dritten Welle“.
Viele Hausärzte sehen das offenbar nicht so sehr als das Problem. Öffnungen seien machbar, sagt Dr. Fritz Ihler, Vorsitzender des Ärztlichen Kreisverbandes. Entscheidend sei dafür vor allem, wie gut es mit der Impfkampagne vorangehe. „Dazu müssen künftig die Hausärzte impfen dürfen.“ Dr. Hanns Lohner, Chefarzt und Pandemiebeauftragter des Romed-Klinikverbundes, rät zur Abwägung. Die Anzahl der Patienten mit Covid-19 in den Kliniken sei stabil. Die Frage nach Lockerungen aber sei ohnehin nicht nur aus medizinischer Sicht zu beurteilen: Gesundheit gehe den im Grundgesetz verbrieften Freiheitsrechten nicht unbedingt vor.
Die Politik rät zur Vorsicht. Einerseits. Andererseits wissen ihre Vertreter in der Region, wie wichtig nach dem langen Winter Ziele sind. Die CSU-Bundestagsabgeordnete Daniela Ludwig und ihr Landtagskollege Klaus Stöttner sprechen sich dafür aus, den Menschen Perspektiven zu geben. Der Einzelhandel habe überzeugende Konzepte entwickelt und die Rolle des Pandemietreibers nicht verdient.
Landrat Otto Lederer (CSU) äußert Verständnis für die Lockdown-Müdigkeit der Menschen. Auch er setzt auf durchdachte Impf- und Teststrategien, um Perspektiven zu schaffen. Allerdings: „Vor dem Hintergrund der derzeit wieder schneller steigenden Inzidenzzahlen aufgrund der sich ausbreitenden Mutationen sollten die Ausstiegsszenarien sorgfältig geprüft und ausgewogen umgesetzt werden.“ Die Balance zu finden – keine leichte Aufgabe, wie er sagt.
Auch OB Andreas März dehnt verbal den schmalen Spielraum. Die Menschen auch in Rosenheim seien an der Grenze der Belastbarkeit angelangt. Er plädiert daher dafür, nicht nur auf die Inzidenz abzustellen, sondern auch die kritische Infrastruktur, speziell die Auslastung der Intensivstationen, in den Blick zu nehmen. Er drängt auf ein Konzept: „Corona besiegen und weite Teile von Einzelhandel und Gastronomie ruinieren, wäre Wahnsinn.“