Rosenheim – Wer blickt eigentlich noch durch? Alle zwei Tage gibt es neue Corona-Regeln. Wer darf öffnen und wer nicht? Wo darf ich mit Maske rein, wo nur mit einem frischen Corona-Test? Wie ist die Inzidenz in meiner Region? Wann ist Präsenzunterricht erlaubt, wann geht‘s ins Homeschooling? Die Corona-Pandemie zehrt an den Nerven aller. Doch für Menschen mit Handicap ist es ganz besonders schwer, sich in diesem Wirrwarr zurechtzufinden, „Dort, wo die Wahrnehmung eingeschränkt ist, sind feste Strukturen besonders wichtig“, erklärt Karin Erhardt, die Leiterin der Makarius-Wiedemann-Schule.
Allein in Attl
700 Betroffene
Mehr als 700 Menschen mit geistigen, körperlichen oder mehrfachen Behinderungen werden in der Stiftung Attl betreut. Sie leben im Wohnheim für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, gehen hier zur Schule und in die heilpädagogische Förderstätte, arbeiten in der Werkstatt oder erhalten ambulante Hilfen. „Unsere Gesellschaft hat es noch immer nicht geschafft, Menschen mit Assistenzbedarf eine uneingeschränkte Teilhabe am Leben zu ermöglichen“, kritisiert Michael Wagner, Sprecher der Stiftung Attl, die Barrieren im alltäglichen Leben. „Doch mit der Corona-Pandemie sind diese Hürden noch viel höher geworden.“
Begegnungen
sind eingeschränkt
Die Kontaktbeschränkungen haben Menschen mit Behinderung in eine soziale Isolation zurückgeworfen, die es so schon seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat. Begegnungen sind erheblich eingeschränkt. Und so ist Inklusion unter Corona-Bedingungen nicht möglich. Allein in der Stiftung Attl fallen 40 Veranstaltungen pro Jahr aus, zu denen etwa 30000 Besucher kamen: Feste, Konzerte, Sportveranstaltungen. Mit viel Kreativität wurde der normale Alltag nach dem ersten Lockdown schrittweise wieder angekurbelt: mit dem Training von AHA-Regeln und Maske-Tragen oder der Anpassung von Arbeits- und Lerngruppen an häusliche Verbünde. Damit die Menschen wieder eine Tagesstruktur erhalten.
Damit Kinder in den Wohnheimen nicht unter dem Kontaktverbot leiden. Damit Krisensituationen vermieden werden können. „Unsere Heilerziehungspfleger haben oft auch die Rolle von Mutter und Vater übernommen, weil im ersten Lockdown keine Besuche oder Wochenendaufenthalte in den Familien erlaubt waren“, beschreibt Karin Erhardt die verordnete Einsamkeit. Inzwischen hat Attl ein eigenes Testzentrum. „Zudem haben wir bereits eine sehr hohe Impfquote erreicht, sind etwa 90 Prozent der Bewohner und 80 Prozent der Werkstattbeschäftigten geimpft“, informiert Wagner. Mit eigens produziertem Hausfernsehen wird die Distanz innerhalb des Einrichtungsverbundes überbrückt. Auf Rundwegen finden wieder erste Feste „to go“ und ohne Gegenverkehr statt. Und auch die Schüler sehen sich im Distanzunterricht wenigstens einmal am Tag in einer Videokonferenz. „Guten Morgen, Verena“, ruft Georg Hundhammer seinem Handy entgegen. Mit den Händen formt er ein großes Herz und fasst sich ans Ohr. So sieht der Guten-Morgen-Gruß in Gebärdensprache aus.
Praktikum in der
Hauswirtschaft
Der 18-Jährige gehört zur Abschlussklasse der Berufsschule. Seine Gruppe war zwei Wochen in Quarantäne, das morgendliche Ratschen ihr einziger Kontakt.
Doch ab heute darf er wieder nach Attl, beginnt sein Praktikum in der Hauswirtschaft. Georg hat Glück. Er lebt auf einem Bauernhof bei Großkarolinenfeld, hat vier Geschwister und ist so nie allein. Trotzdem sehnt er sich nach seinen Klassenkameraden. Er kann sich nicht einfach mal schnell durch die Hintertür verdrücken, aufs Moped steigen und sich mit seinen Kumpels heimlich am See auf eine Halbe treffen.
Ausflüge nach
dem Lockdown
Wie andere Jugendliche mit Handicap ist auch Georg darauf angewiesen, dass die Kontaktbeschränkungen gelockert werden, damit er daheim nicht mehr „festgenagelt“ ist und aus der familiären „Isolation“ wieder ins bunte Leben eines Jugendlichen zurückkehren kann. „Ausflüge nach Rosenheim machen. Ins Museum gehen. Ein Eis essen.“ Das ist es, was sich der 18-Jährige wünscht. Solange das nicht möglich ist, schreibt er Briefe, um sich mitzuteilen und erträgt das Warten geduldig. Was ihn tröstet, ist die Vorfreude: auf Tischtennis- und Kickerturniere, Konzerte, das Zirkusprojekt an seiner Schule und auf einen Besuch im Lokschuppen.