Flintsbach – Gerti Ksellmann hat eine große grüne Tasche auf ihrem Schoß. Sie öffnet den Reißverschluss, ganz langsam. Ihre Hand verschwindet in der Tasche, ihre Augen suchen und sie ruft: „Sissi?“ Ksellmann rollt mit den Augen. „Die schläft noch.“ Kurze Pause. „Hallo? Aufgewacht!“
Eine Puppe erhebt sich aus der Tasche, reckt und streckt sich, gähnt ausgiebig. Sie hat eine Knubbelnase, schwarze Knopfaugen, blondes Strubbelhaar mit geflochtenen Zöpfen und trägt ein rotes Käppchen. Sissi bittet um fünf Minuten. Doch Ksellmann meint: „Nein, jetzt ist es Zeit.“ Sie bewegt die Puppe, nimmt ihre Hand und streicht über ihr Haar. Die 47-Jährige leiht Sissi ihre Stimme und spricht dafür in einer höheren Stimmlage.
Gelernte
Erzieherin
Beobachter merken, dass Ksellmann Übung hat. Mit „Gertis Märchenkiste“ hat sie sich 2009 selbstständig gemacht, als Puppenspielerin und Märchenerzählerin. Erfahrung hat sie im Kindergarten gesammelt. Neun Jahre hat sie dort nach ihrer Ausbildung zur Erzieherin gearbeitet. Die 47-Jährige gibt auch Seminare für Erwachsene. Die Teilnehmer lernen Techniken, wie sie mit den Handpuppen umgehen und kindgerecht Märchen erzählen. Die Kurse brächten das Geld ein, die Auftritte vor Kindern seien „das Herz“.
Durch Corona habe sich ihre Arbeit „schlagartig“ verändert. „Ich war zwangsarbeitslos“, sagt Ksellmann. Seminare sowie Auftritte in Kindergärten, Grundschulen oder auf Geburtstagsfeiern seien ausgefallen. Sie sei deshalb froh gewesen, dass ihr Mann der Hauptverdiener sei und sie vom Staat Überbrückungsgeld bekommen habe. Aufgrund von Corona musste sie neue Methoden entwickeln und ihre Geschichten online erzählen. „Das ist fast wie in echt, aber schöner ist es natürlich live“, sagt die 47-Jährige.
Die Kinder seien aber sehr spontan und auch online begeistert dabei. Das hätten ihr Vorführungen vor den zweiten Klassen der Grundschule Flintsbach gezeigt, in der auch ihr Sohn sei. Im Fach Deutsch lernten die Kinder gerade Briefeschreiben. Passend dazu erzählte Gerti Ksellmann „Die Geschichte vom Löwen, der nicht schreiben konnte“ via Videokonferenz. Der Löwe sucht nämlich Hilfe bei anderen Tieren, um einer Löwin einen Liebesbrief zu schreiben. „Frau Ksellmann hat das so geschickt gemacht, dass die Kinder aktiv mitgemacht haben“, sagt Lehrerin Simone Herrmann. Sie seien so motiviert gewesen, dass sie danach Briefe für den Löwen schreiben wollten.
Die Lehrerin sei überrascht gewesen, dass alles einwandfrei geklappt habe: „Nicht nur wegen der Technik, auch weil die Kinder das live kennen.“ Die Puppenspielerin sei bekannt im ganzen Dorf und habe zuvor bereits im Kindergarten oder privat Geschichten erzählt.
Im Unterschied dazu sind Ksellmanns Online-Seminare nicht ganz so einfach angelaufen. Zu Beginn der Pandemie sei sie kaum gebucht worden. Nun sei die Auftragslage besser. „Die Leute sind ausgehungert und wollen was anderes sehen“, sagt die 47-Jährige. Dennoch sei es für viele schwierig, über eine Videoschalte lange aufmerksam zu sein. Den Inhalt könne Ksellmann auch nicht eins zu eins online vermitteln: „Ich zeige viel, lege Dinge auf den Boden.“
Das Zwischenmenschliche fehle ihr aber besonders. Eine Online-Konferenz sei jedoch optimal für Teilnehmer, die aufgrund ihrer Entfernung nicht mitmachen könnten. Online seien Personen aus Norddeutschland, Österreich und der Schweiz dabei gewesen. „Das gibt es sonst nie, es ist sonst sehr lokal“, sagt Ksellmann. In Zukunft werde sie deshalb eine Mischung aus Onlinevorträgen und Fortbildungen vor Ort anbieten.
Wie viele andere musste Gerti Ksellmann aufgrund von Corona im Homeoffice arbeiten. Doch das sieht bei der Puppenspielerin anders aus als bei den meisten. Das Dach läuft spitz zu, der Schornstein ragt hervor, ein Besen lehnt vor der Tür und die schiefen Fenster machen neugierig, was sich dahinter verbirgt.
Was Märchenfans tief im Wald zwischen dunklen Tannen vermuten würden, steht inmitten einer Wohnhaussiedlung in Fischbach – ein Hexenhaus. Genauer gesagt Gerti Ksellmanns lange ersehnter Traum. Vor drei Jahren hat sie sich das Häuschen zugelegt. Zwei Monate habe der Aufbau gedauert. Vor allem während der Pandemie sei sie froh, dass sie das Hexenhaus als „Arbeitszimmer“ habe.
Nicht nur Ksellmanns Home-Office ist außergewöhnlich. Für ihre Erzählungen nutzt sie ein Kamishibai, ihren „Geschichtenfernseher“. Dabei handelt es sich um einen hölzernen Bilderschaukasten oder ein Papiertheater. Es stammt ursprünglich aus Japan und hat zwei Flügeltüren. Von oben schiebt die Erzählerin Papierkarten in den Kasten. Die Bilder unterstützen die Geschichte malerisch.
Meistens gestaltet die gelernte Erzieherin die Karten selbst. Dazu könne sie auswendig erzählen. Sie passe die Märchen jedoch an, verwende nur die Grundstruktur. „Wortwörtlich passt das nicht“, sagt Ksellmann. Die Sprache sei oft zu kompliziert. Wichtiger sei ein roter Faden und auf die Kinder einzugehen, wodurch die Erzählungen abwechslungsreich seien.
Lehrreiche Geschichten
Zu unterhalten sei ihr Hauptauftrag, dennoch erzählt Ksellmann lehrreiche Geschichten. Diesen Herbst habe sie einen Auftrag zum Thema Kinderrechte. Auch mit dem Landratsamt Rosenheim arbeitet sie zusammen. Die Behörde bietet einen „Inklusionskoffer“ als Leihgabe für Schulen und Kindergärten. Darin sind Handpuppen mit Behinderungen: Das taube Hasenmädchen Liesa, der blinde Maulwurf Braille oder der Igel Borstel mit Verhaltensauffälligkeiten. Ksellmann präsentiert die Puppen. „Sie erreicht, dass sich die Kinder öffnen, interessieren und nachfragen“, sagt Jakob Brummer von der Fachstelle Inklusion. Sie würden so mit dem Thema Behinderung vertraut gemacht und Berührungsängste abbauen. Ksellmann wünscht sich „Barrierefreiheit in den Köpfen“. Die Puppenspielerin ist leidenschaftlich: „Das ist kein Beruf, das ist eine Herzenssache.“