Rosenheim – Im Schatten der Aicherparkbrücke stehen Gesamtprojektleiter Karl Kergl und Straßenbau-Bereichsleiter Stefan Leitner und erläutern die Fortschritte an der Westtangente. Sie tun das mit erhobener Stimme. Denn auch bei diesem Termin des Staatlichen Bauamts rauschen Pkw und rumpeln Lastwagen unentwegt über die Georg-Aicher-Straße und bestätigen Stefan Leitners Feststellung: Der Landkreis Rosenheim sei eine der verkehrsreichsten Regionen Bayerns.
Die Westtangente soll Entlastung bringen, und das ab Mitte 2023 für weitere Abschnitte. Man prüfe gerade die Voraussetzungen für eine Teilfreigabe im Abschnitt 2, dem Bereich Aicherpark, und dem Bereich nördlich davon bis zum Öllerschlössl, sagt Karl Kergl.
Es geht voran mit Rosenheims historisch großem Straßenbauprojekt, und zwar sichtbar: Der letzte Stahlträger schwebte kürzlich am Stahlseil eines Autokrans hängend in die letzte Lücke des Tragegerüsts und wurde eingepasst. Auf 680 Meter Länge, von der Mangfall bis zur Bahnlinie Holzkirchen, ist das Skelett der Aicherparkbrücke fertiggestellt. In einigen Abschnitten wird auch schon der Beton für die Fahrbahn aufgetragen, sichtbar sind die Rampen für die Anschlüsse vom Aicherpark.
Besonders eindrucksvoll ist der 100 Meter lange Abschnitt über Kanal und Mangfall. Hüben wie drüben ragen massige Tragepfeiler empor, an ihnen ist die Brücke mit oberschenkeldicken Trossen aufgehängt. Die Stahlseilbündel, zehn an jedem Pylon, leiten das Gewicht von Stahl und Beton in die Tragepfeiler, die ihre Last wiederum an den Boden weitergeben, erklärt der Projektleiter. 45 Meter tief reichen die Bohrpfeiler in den Untergrund, darauf ruht ein Betonfundament, das die Pylone trägt.
Im Boden lauern
Überraschungen
An der Großholzstraße wiederum, eineinhalb Kilometer weiter im Norden, taucht die Trasse in die Tiefe, auf einer Länge von 300 Metern. Fordernd gestalten sich die Arbeiten an der Eisenbahnbrücke Wernhardsberg. Vor gut einem halben Jahr konnten zwar erfolgreich zwei Behelfsbrücken eingebaut werden. Über sie rollt der Eisenbahnverkehr, während sich die Straßenbauer tiefer und tiefer in den Untergrund wühlen. Aber eigentlich hatten die Straßenbauer den Bahnverkehr nur an vier Wochenenden sperren lassen wollen. Dann aber stellte sich heraus, dass die Bahn irgendwann vor Jahrzehnten den Damm mit dicken Rohren im Seeton des Untergrunds abgestützt hatte – was die Straßenbauer mit überraschenden Herausforderungen konfrontierte.
Also musste der Bahnverkehr an weiteren vier Wochenenden unterbrochen werden. Dazu wurde der Güterverkehr teilweise bis über Passau umgeleitet, Lieferketten umorganisiert. Gut drei Jahre Vorlauf fordert die Bahn üblicherweise für solche Unterbrechungen, für dieses Mal genügten eineinhalb Jahre, weswegen die Brücken schon Ende vergangenen Jahres fertig waren. Insgesamt verzögert sich der Abschluss des Gesamtprojekts aber bis 2025. Auch die Baukosten steigen. Stefan Leitner nennt keine konkrete Zahl, „das wäre Spekulation“, aber ein zweistelliger Millionenbetrag werde es sein.
Bauarbeiten an einer Verkehrsachse von europäischem Rang gleichen einer Operation am offenen Herzen: Der Betrieb kann ja nicht einfach eingestellt werden. Und es ist kompliziert. Die Spundwände, die Bahndamm und Behelfsbrücke stützen, sind mit horizontal gelegten Ankern in sich verspannt und mit Rohren unterhalb der Gleise versteift. An den Ankern selbst wird der Druck hinter den Spundwänden gemessen.
Dazu gibt es Dutzende gelber Messpunkte, die regelmäßig von einem Lasermessgerät angesteuert werden. Sollte sich irgendetwas bewegen, sich das Material zwischen den Spundwänden etwa überraschend stark setzen, würde Alarm gegeben. Die Messgeräte werden 24 Stunden am Tag überwacht.
Unter der Behelfsbrücke graben sich die Straßenbauer nun eine Ebene tiefer, bis sie das U für die Unterführung betonieren können, wiederum auf Bohrpfeilern ruhend. Dann werden die Hälften des Betondeckels daraufgeschoben, von beiden Seiten gleichzeitig.
Die Westtangente ist nicht nur ein Bauprojekt, sie gleicht auch einem Testfeld. „Wir arbeiten nicht nach dem Stand der Technik, sondern nach dem Stand der Wissenschaft.“ So sagt es Stefan Leitner.