Rosenheim – Katharina Kern packt den hölzernen Griff ihrer Sense mit dem langen Schneideblatt fester und zieht sie durch den Brennnesselwuchs auf der Weide. Es raschelt, als das Werkzeug die Pflanzen abschneidet. Kern richtet sich auf und zeigt auf eine Stelle weiter unten auf der Weide: „Da ist auch noch was“, sagt sie und stapft los.
So wie andere Menschen ihren Rasen daheim im Garten mähen, so pflegt Kreisbäuerin Katharina Kern die Weiden rund um die Schweinsteigeralm. Diese liegt auf einer Höhe von 1200 Metern am Sudelfeld im Mangfallgebirge. Dort oben scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Viel Grün, viel Glockengeläut, viele Gründe, wandern zu gehen.
Almfläche
schwindet weiter
Doch es gibt Probleme. Da ist zum Beispiel die Weidefläche, die schwindet. Rund drei Prozent sind in den vergangenen 30 Jahren zugewachsen, 2020 waren es laut dem Rosenheimer Landwirtschaftsamt noch 4531 Hektar. Das bedroht die Lebensgrundlage der Almbauern.
Durch regelmäßige Pflege, das sogenannte Schwenden, versuchen sie, den Schwund zu begrenzen. „Die Arbeit ist hart“, sagt Katharina Kern. Vieles geht nur per Hand, denn Maschinen haben es in dem steinigen, bergigen Gelände schwer. Kern benutzt für Pflanzen wie Brennnesseln oder Farn die Sense. Fichten- und Weidentriebe knipst sie ab. Die Kreisbäuerin holt eine große Gartenschere aus einer Kammer der 240 Jahre alten Almhütte. Kern wandert den Berg ein Stück hoch, steigt über Steine und weicht geschickt Disteln aus.
Die Baumtriebe muss sie entfernen, um die Weiden freizuhalten. Sonst „verbuschen“ die Flächen nach und nach, was die Biodiversität gefährde. Seltene Orchideen und Bergkräuter, wie Frauenmantel, Salbei und Schafgarbe, die kreuz und quer auf den Wiesen wachsen, hätten keine Chance mehr.
Katharina Kern ist Profi. Rund zehn Sommer hat sie schon auf Almen verbracht. Die Arbeit habe sich im Laufe der Jahre wenig verändert, sagt Kern. Viele Kilometer Fußweg seien damit immer verbunden. Kein Wunder, bei einer Almfläche von 100 Hektar. Heuer hat sie Verantwortung für 124 Tiere, 114 Rinder und zehn Pferde. „Da muss man jeden Tag kontrollieren, ob alle da und gesund sind“, sagt sie. Und auch der 18 Kilometer lange Zaun muss instand gehalten werden.
Am 13. Mai hat die Arbeit auf der Alm für Katharina Kern begonnen – zwei Wochen früher als noch vor 30 Jahren. Der Grund ist der Klimawandel. Es ist wärmer geworden, die Pflanzen wachsen früher und schneller. Die Tiere müssen auf den Berg rauf, die Weiden abgrasen.
Katharina Kern sieht sich nicht nur als Bäuerin, sondern vor allem als Pflegerin der bayerischen Kulturlandschaft. Biodiversität, Artenvielfalt, Tourismus – alles Begriffe, die fallen, wenn sie über die Almwirtschaft spricht und warum diese wichtig ist. Kern pflegt ihre Alm nicht nur für ihre Tiere. „Wir machen das für die Gesellschaft.“
Kern will die Almregionen als Sport- und Erholungsgebiete für die Menschen erhalten. Ein Raubtier macht ihr dabei aber Probleme. Es ist ein Tier, das laut Kern vor 30 Jahren in der Region noch keine Rolle gespielt hat, jetzt aber zurück ist: der Wolf. Im vergangenen Oktober wurde im Landkreis Rosenheim in der Nähe von Aschau einer gesichtet. Das Landesamt für Umwelt (LfU) bestätigte den Fall. Im April berichtete ein Jäger aus Aßling von einem Raubtier zwischen Niclasreuth und Anertsberg. Der Landkreis Rosenheim ist in diesem Jahr bisher offiziell wolfsfrei, wie eine Sprecherin des LfU auf Anfrage mitteilte.
Dass Wölfe offenbar wieder Gefallen an der Region finden, beunruhigt vor allem Klaus Steiner. Der Traunsteiner CSU-Landtagsabgeordnete ist Berichterstatter für Alm- und Forstwirtschaft im Agrarausschuss im Landtag. „Die Wolfsbestände müssen frühzeitig reguliert werden“, schreibt er in einer Mitteilung auf seiner Webseite.
Mit „regulieren“ ist „abschießen“ gemeint. Bis dato verhindert das der strenge Schutzstatus der Tiere. Nicht nur deutsches Recht, sondern auch EU- und internationale Gesetze sichern seinen Bestand. Bayerns Landwirtschaftsministerin Michaela Kaniber (CSU) will unter bestimmten Bedingungen im Freistaat erlauben, Wölfe abzuschießen. Eine Aussage, die Katharina Kern begrüßt. „Der Wolf hat schon durchaus seine Daseinsberechtigung. Aber wir wollen keine standortfesten Rudel oder Tiere“, sagt sie. „Sonst ist die Almwirtschaft vorbei.“
Herdenschutzzäune
sind aufwendig
Sie zeigt auf einen Herdenschutzzaun, der ein Stück die Weide entlangläuft. Solche Zäune sind aufwendig zu unterhalten. Oben und unten sind sie mit Stromschienen versehen. Die 10000 Volt könnten zum Beispiel Rehe verschrecken. Aber für einen Wolf, der über drei Meter hoch springen kann, sei so ein eineinhalb Meter hoher Zaun ein Klacks, sagt Kern.
Herdenschutzzäune sollen vom Staat stärker begünstigt werden, findet Peter Kasperczyk, Vorsitzender des Bund Naturschutz Rosenheim.
Ein „Blankopapier“, also eine generelle Erlaubnis zum Abschuss von Wölfen lehnt er ab. Kasperczyk verweist auf das Herdenschutzprojekt „LIFEstockProtect“, in dem Wissenschaftler, Naturschützer sowie Weidetierhalter aus Österreich, Bayern und Südtirol zusammenarbeiten. „Wir würden uns wünschen, dass sich auch die einheimischen Almbauern beteiligen und nicht nur nach dem Abschuss rufen.“