Rosenheim – Er begann 1983 als Lehrer an der Grund- und Hauptschule Bad Aibling. Am Ende des Monats geht Edgar Müller als Leiter des Schulamts in den Ruhestand. Die OVB-Heimatzeitungen sprachen mit ihm über Belastungen, Anfeindungen und Aussichten. Und über Corona. „Ich werde vielleicht als Krisenmanager in die Chronik eingehen“, sagte er.
Sie bogen auf die Schlussgerade Ihrer beruflichen Laufbahn ein, als die Corona-Pandemie einsetzte. Sie hätten sich vermutlich ein anderes Finale gewünscht?
Ja, eindeutig. Wenn ich zurückblicke, war das die herausforderndste und belastendste Zeit in meinem Berufsleben.
Wo spürten Sie die Belastung am meisten?
Herausfordernd war das Gesamtorganisatorische. Das am meisten Belastende waren die Anfeindungen, die Angriffe von außen, die oft unter die Gürtellinie gingen und sich in Beleidigungen äußerten.
Und wie war’s für die Lehrer und Schulleiter?
Auch für die Schulleitungen maximal belastend. In organisatorischer Hinsicht, aber auch in emotionaler Hinsicht. Dabei kann man nicht hoch genug loben, was unsere Lehrkräfte und unsere Schulleitungen in dieser Zeit geleistet haben und noch leisten.
Viele Eltern haben geflucht, über Mängel im Distanzunterricht, aber auch über den einen oder anderen unmotivierten oder unvorbereiteten Lehrer. Zu Recht?
Man muss bedenken, dass das eine Herausforderung von nicht denkbaren Ausmaßen und Dimensionen gewesen ist. Als die ersten Anordnungen aus dem Kultusministerium kamen, war ich oft versucht zu sagen, das geht nicht. Und dann haben wir es doch geschafft. Auch weil wir da keine Alternative hatten. Wie wir – da spreche ich auch für Lehrer und Schulleitungen – uns den Herausforderungen, die durch Corona an uns gestellt wurden, gestellt haben, darauf bin ich stolz. Das heißt nicht, dass man in dieser Situation keine Fehler macht. Und in der Rückschau hätte man vielleicht dennoch einiges anders machen können. Aber das ist jetzt natürlich leicht gesagt.
Die Querdenker-Schule in Schechen: Für Sie nur eine Anekdote oder die Spitze des Eisbergs?
Es ist meine persönliche Meinung, dass unsere Gesellschaft zunehmend individualistischer wird. Viele schauen nur noch auf sich und ihr Wohl. In diesem Corona-Ausnahmezustand war ganz viel Gemeinschaftssinn gefordert, und da muss diese Haltung zu Problemen führen. Das heißt nicht, dass ich nicht jedem seine Meinung zugestehe, so lange sie im rechtlichen Rahmen bleibt. Aber – wir leben in einem Gemeinwesen, in einem Staat, wo es ein Miteinander geben muss. Auch wenn mir manchmal persönlich etwas nicht passt.
Während der Pandemie jagte eine Regel die andere. Erlebten Sie da Zeiten der Verzweiflung?
Es gibt eine übergeordnete Behörde, nämlich das Kultusministerium. Und von dort kommen diese Erlasse. Je näher Sie aber dran sind, desto genauer kennen Sie die individuelle Problematik an jeder Schule. Da muss ja ein Spannungsfeld entstehen. Deswegen hat man sehen können, wie wichtig ortsnahe Strukturen wie das Schulamt sind. Dabei waren zuvor Schulämter jahrelang in der Diskussion gewesen.
Ein Beispiel?
Diese ortsnahen Strukturen gibt es in den weiterführenden Schulen nicht mehr. In Corona-Zeiten war es das Schulamt, das den Auftrag erhielt, den Kontakt und die Koordination mit den weiterführenden Schulen zu halten. Aber zwischen der übergeordneten Behörde und der Schule vor Ort können sich dennoch immer wieder Spannungen ergeben.
Wo konkret?
Problematisch war die Geschwindigkeit. Man bekam die Schreiben oft erst ein, zwei Tage vorher.
Zum Beispiel vor dem Start der Reihentestungen?
Ja, zum Beispiel. Diese Kurzfristigkeit stellte uns vor extreme Herausforderungen und noch mehr die Schulen. Am schwierigsten waren die Umsetzung des Distanzunterrichts, der Testungen und des Maskentragens mit den jeweils individuellen Herausforderungen an die Schulen. Hier war man auch mit den individuellen Forderungen der Eltern konfrontiert.
Derzeit gehen die Ansteckungszahlen bei den Jüngeren durch die Decke. Macht Ihnen das Sorgen?
Natürlich. Es gibt keine Maskenpflicht mehr, und das bei den ohnehin schon hohen Zahlen hier in der Region. Dadurch sind die Lehrer gefährdet, auch wenn sie geimpft sind.
Kam das Aus für die Maskenpflicht an Schulen zu früh?
Das wage ich nicht zu beurteilen. Ich fand es richtig, dass am Anfang die Maskenpflicht herrschte, um die Auswirkungen durch die Reiserückkehrer abzudämpfen. Wir haben viele Berufstätige aus den Ländern auf dem Balkan mit ihren hohen Inzidenzen. Aber wenn überall gelockert wird, die Menschen sogar in die Disco gehen können – dann ist die Maskenpflicht in der Klasse schwierig aufrechtzuerhalten.
Bald könnte die gesetzliche Grundlage fürs Testen entfallen – sollte Gesundheitsminister Spahn das Ende der epidemischen Lage verkünden.
Warten wir ab, was kommt. Ich sage aber: Die Testungen an sich sind sinnvoll. Allerdings verstehe ich nicht, dass unsere Grundschullehrerinnen und -lehrer sich nicht mit den Kindern zusammen testen lassen können. Sie müssen getestet sein, falls sie nicht geimpft oder genesen sind, an den praktischen PCR-Pooltests aber können sie aktuell noch nicht teilnehmen. Gut, dass aus den ersten Wochen nach dem Schulbeginn an den Grundschulen noch Antigen-Schnelltests übrig sind.
Wie hat sich zwischen 1983 und 2021 das Berufsbild des Lehrers gewandelt?
Den Begriff „Inklusion“ zum Beispiel gab es im Regelschulbereich 1983 noch gar nicht. Es gab auch keine Ganztagsschulen und auch nicht so viel Migration. Und es gab auch keine M-Klassen. Die Gesellschaft entwickelt sich, also muss sich auch die Schule permanent weiterentwickeln.
Lebenslanges Lernen also.
Richtig. Aber die Gesellschaft ändert sich zunehmend schneller, auch aufgrund der technischen Entwicklungen und der Globalisierung. Bildung braucht aber eigentlich Ruhe und Zeit. Das ist zunehmend ein Spannungsfeld.
Bologna-Prozess und die anderen Bildungsreformen trimmen die Kinder vor allem auf Tempo.
Ja. Ein schönes Beispiel dafür ist das zwölfjährige Gymnasium, bei dem man nach einigen Jahren festgestellt hat, dass es vielleicht doch nicht richtig funktioniert. Kinder brauchen Zeit.
Vor welchen Herausforderungen steht Ihre Nachfolgerin Angelika Elsner?
Corona ist nicht beendet, und ich glaube, dass Digitalisierung an den Schulen durch Corona in den öffentlichen Fokus geraten ist. Und die Region Rosenheim ist ein großer Flächenlandkreis mit sehr vielen kleinen Schulen. Eltern und Politik wollen die, und auch ich finde sie gut. Aber da stößt man auf organisatorische Schwierigkeiten. Jede kleine Schule benötigt mehr Ressourcen an Lehrerstunden als eine große Schule.
Herrscht immer noch Mangel an Lehrern?
Früher brauchte man einen Abschluss von unter 2,0, um an der Grundschule als Beamter eingestellt zu werden. Da gab es sogar Wartelisten. Jetzt wird jeder, der die Staatsprüfung bestanden hat, in den Staatsdienst übernommen, und es fehlen immer noch Lehrer.
Ist der Job nicht anziehend genug?
Ich persönlich finde, es ist ein attraktiver Beruf. Man ist Beamter auf Lebenszeit, ist unkündbar, erhält eine gute Pension, auch wenn im Gegensatz dazu das Gehalt niedriger als in der freien Wirtschaft ist. Das ist attraktiv. Und wann ist man mit seinem Beruf zufrieden? Wenn man eine sinnvolle Betätigung hat. Und Kinder zu bilden, ist sinnvoll! Gibt es was Sinnvolleres als Kinder auszubilden? Als Lehrer zu sein?Interview Michael Weiser