Kimmichs Zaudern? „Sehr bedauerlich“

von Redaktion

Interview Professor Dr. Thomas Rosemann aus Bad Aibling über den Sinn von Impfungen

Rosenheim – Professor Dr. Thomas Rosemann (52) schaffte eine Schweizer Premiere: An der Uni Zürich wurde der gebürtige Bad Aiblinger erster Professor für Hausarztmedizin. Nach seinem Studium begann er seine berufliche Laufbahn am Romed-Klinikum Rosenheim. Für einen Vortrag über das Impfen ist er jüngst nach Rosenheim zurückgekehrt. Die OVB-Heimatzeitungen sprachen mit ihm über Sinn und Gefahren der Corona-Impfung. Und darüber, warum Wohlstand nicht unbedingt gut für die Impfquote sein muss. Und warum Impfen nicht nur eine individuelle Entscheidung ist.


Wie empfanden Sie die Äußerung von FC-Bayern-Star Joshua Kimmich, mit der Impfung warten zu wollen?

Das finde ich sehr bedauerlich. Man muss zwei Ebenen unterscheiden, die persönliche und die gesellschaftliche. Natürlich ist es zunächst jedes Menschen freies Recht zu entscheiden, ob er sich impfen lässt oder ob nicht.

Aber?

Es gibt noch den epidemiologischen Aspekt. Und da beeinflusst er mit seiner Entscheidung womöglich auch die Zukunft anderer Menschen. Als Ungeimpfter kann er zunächst vor allem Überträger der Infektion werden, auch wenn er selber nicht schwer erkrankt ist. Zweitens kann er so zum Reservoir für Mutationen werden. Das bedeutet, dass jeder Ungeimpfte zum Ausgangspunkt der Mutation werden kann, die unseren Impfschutz überspringt. Das ist ein Aspekt, der oft zu wenig wahrgenommen wird. Drittens kann auch er schwer erkranken. Wenn er dann auf die Intensivstation verlegt wird, dann womöglich in das Bett, das beispielsweise ein Patient mit einem Herzinfarkt bräuchte. So gesehen ist diese Entscheidung keine individuelle mehr, man entscheidet über eine vermeidbare Infektion womöglich auch über das Schicksal eines – oder im Fall einer Mutation – aller anderen mit.

Ist das Wartenwollen nicht verständlich? Das alles ging wirklich schnell. Kaum hatte man vom Corona-Virus gehört, war schon ein Heilmittel auf dem Weg.

Ja, das kann man meinen. Wenn man nicht ausreichend informiert ist. Auf die angeblich so rasche Entwicklung gehe ich auch in meinem Vortrag ein. Dazu muss man wissen, wie diese Technik funktioniert. Die DNA und RNA bestehen aus nur vier Buchstaben, und Biontech und Moderna sind seit vielen Jahren in der Lage, mit diesen vier Buchstaben zu schreiben. Wenn man diese Sprache einmal beherrscht, ist es nicht so schwierig, den Oberflächenbereich dieses Virus in die RNA-Sprache zu übersetzen. Und Biontech und Moderna machen dies sind seit zehn Jahren im Bereich der Krebstherapie. Da verwundert es einen nicht, dass es so rasch ging.

Dennoch: Ein Medikament so schnell zugelassen – das hat man noch nicht erlebt.

Da muss man unterscheiden, und zwar zwischen dem Zulassungs- und dem Entwicklungsprozess. Die RNA in Lipide einzuhüllen, war die eigentliche Challenge. Weil die RNA so instabil ist und schnell zerfällt. Was dann aber den Prozess der Zulassung betrifft: Da hatte Biontech schnell 4200 Patienten beieinander. Bei einem Medikament gegen Blutdruck brauchen Sie Jahre, bis Sie so viele Patienten rekrutiert haben. An der methodischen Qualität des Zulassungsverfahrens gibt es nichts zu zweifeln.

Haben Sie eine Idee, wie man die Impfkampagne wieder ankurbeln kann?

Es gibt Impfskeptiker, die man per se nicht erreichen kann. Alle anderen muss man aufklären, so wie Herrn Kimmich. Zum Beispiel, indem wir über die angeblichen Langzeitschäden informieren. Es gibt kein anderes Medikament, wo Sie so viele Personenjahre (ein Maßstab in klinischen Studien und statistischen Risikobewertungen, Anmerkung der Redaktion) haben. Es ist ausgeschlossen, dass Langzeitschäden unentdeckt bleiben.

Aber gerade diese Folgen machen Menschen Angst.

mRNA-Impfstoffe benötigen anders als andere Impfstoffe keine Adjuvantien wie Aluminium, sondern nur eine Hülle aus Lipiden, um die instabile RNA zu schützen. mRNAs werden in jeder Zelle ständig gebildet und gleich wieder aufgebaut.

Was ist denn RNA eigentlich?

Der Begriff DNA ist ja weitläufig bekannt. In der DNA sind die genetischen Informationen eines Lebewesens niedergelegt, und die RNA ist nichts anderes als der Laufzettel an die Werkstätten der Zelle, die Ribosomen, ein Spickzettel mit Teilen eines DNA-Abschnitts.

Und da steht drauf: Produziert Antikörper gegen diese und diese Erreger?

Mit der mRNA-Impfung jubelt man den Zellen eine Blaupause unter. Damit machen die Ribosomen das, was sie immer tun: Sie bauen ein bestimmtes Protein, in diesem Fall ein Spike, also ein Oberflächenmerkmal des Virus, gegen das dann Antikörper gebildet werden. Der Bauplan, also die mRNA, wird dann sofort in den Mülleimer geworfen, also abgebaut. Da die DNA doppelsträngig ist und die mRNA einsträngig, sind Verwechslungen ausgeschlossen und ein Einbau der RNA in die DNA unmöglich. Das hat die Natur sehr schlau eingerichtet.

Die Frage aller Fragen – warum ist die Impfquote in der Region Rosenheim so niedrig?

Das kann ich leider auch nicht sagen. Jedenfalls ist das ein Problem. Sie brauchen eine hohe Impfquote, um bei einem so ansteckenden Erreger die Infektionsketten zu unterbinden. Mit der Wildvariante wäre das auch bei einer niedrigeren Impfquote gegangen. Aber je ansteckender das Virus ist, desto höher muss die Impfquote sein. Bei den Masern etwa brauchen wir eine hohe Durchimpfung, die jenseits der 95 Prozent liegt. Letztlich überraschen dann auch die hohen Inzidenzen nicht. Nochmals: Es ist die Entscheidung, ob ich ein kalkulierbares minimales Restrisiko mit der Impfung akzeptiere oder das viel höhere einer Corona-Infektion mit schwerem Verlauf, womöglich mit Long Covid.

Aber es gibt auch Impfdurchbrüche.

Natürlich, das sage ich auch in meinem Vortrag. Da gibt es gute Analysen aus Israel. Wenn ich als schlechtesten Ausgang den Tod ansetze, dann liegt der Schutz durch eine Impfung bei 95, 96 Prozent. Auch ein Fallschirm schützt nicht immer vor einer harten Landung, aber niemand würde auf die Idee kommen, ohne Fallschirm aus dem Flugzeug zu springen.

Sie arbeiten in der Schweiz, die lange Zeit eher laxe Regeln hatte.

Das ist nach wie vor so. Die Eidgenossen tun sich schwer mit staatlichen Vorschriften. Die Impfquote ist eine der niedrigsten von allen industrialisierten Ländern. Wir haben eine deutliche Übersterblichkeit, höher als in Deutschland. Wir haben die zweithöchste Lebenserwartung in Europa, die ist aber mittlerweile um zwei Jahre gesunken.

Ich sehe abgesehen von den Bergen noch eine Parallele zwischen der Region Rosenheim und der Schweiz: den Wohlstand. Sind betuchte Menschen skeptischer?

In Portugal zum Beispiel sind 98 Prozent aller Erwachsenen geimpft, und das liegt in der Geschichte begründet. Die sind durch ihr Gesundheitswesen nicht verwöhnt, die Risiken sind den Menschen präsenter. Schwere Krankheitsverläufe sehen wir nicht mehr. Früher gab es in jedem Freundeskreis jemanden, der beispielsweise schwer an den Masern erkrankte, verstarb oder zeitlebens an den Folgen der Hirnhautentzündung beeinträchtigt war. Wer kennt heute noch jemanden, der durch Masern beeinträchtigt ist? Schwere Infektionskrankheiten sind aus dem Bewusstsein verschwunden, und das korreliert mit Wohlstand und Qualität der medizinischen Versorgung.

Kommen die umfangreichen Lockerungen und womöglich das Ende der epidemischen Lage zu früh?

Die Inzidenzen werden nach oben gehen. Was man auch sehen muss, ist die Belastung der Intensivstationen. Viele Pflegekräfte sind am Ende. Was auch daran liegt, dass viele Patienten auf der Intensivstation deutlich aufwendiger zu betreuen sind als die der ersten und der zweiten Welle. Damals waren es bei uns mehr Ältere, und jetzt sind es kräftige oder gar übergewichtige jüngere Männer und viele schwangere Frauen. Sie drehen leichter eine Oma mit 60 Kilo auf den Bauch als einen jüngeren Mann mit 120 Kilo. Aber das sieht niemand.

Interview: Michael Weiser

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