Neubeuern – „Oase für verletzte Kinderseelen“ – so hat unsere Zeitung vor genau zehn Jahren das Kinderdorfhaus in Pinswang (Gemeinde Neubeuern) bezeichnet. Aber das ist überholt. Aus einer Oase sind drei Oasen geworden, aus einem Kinderdorfhaus drei.
Und das ist den Leserinnen und Lesern unserer Zeitung zu verdanken. Gleich zweimal, 2012 und 2018, haben sie dafür gesorgt, dass das Albert-Schweitzer-Familienwerk zwei große Projekte für Kinder aus schwierigsten Verhältnissen verwirklichen konnte: 2015 kam neues Leben in den umgebauten Rosenhof – und jetzt auch ins neue zweistöckige Zuhaus. Außerdem ist das Kerbhaus größer geworden.
Das ist eine tolle Geschichte für die Buben und Mädchen, die in Pinswang die Chance bekommen, die Schatten der Vergangenheit hinter sich zu lassen und ein großes Stück Kindheit nachzuholen. Alle sind sogenannte Sozialwaisen (siehe Kasten) – erschütterte Kinderseelen, die schlimme Erlebnisse hinter sich haben.
Aus kleinen Kindern
werden Jugendliche
Der Neuanfang in Pinswang fällt ihnen allen schwer. Sie kommen mit viel Wut im Bauch. Wunden sind zu heilen, Traumata zu überwinden. Doch mit Vergangenheitsbewältigung ist es nicht getan, die Kinder haben ja fast ihr ganzes Leben noch vor sich, und die Zeit vergeht auch in der Großfamilien-Idylle auf dem Land. Irgendwann ist es vorbei mit den Seelenmassagen, aus Kindern werden Jugendliche, aus Jugendlichen Erwachsene – von denen die Gesellschaft erwartet, dass sie die Gegenwart allein meistern und ihre Zukunft selbst anpacken.
Das Konzept der Kinderdorfhäuser – keiner verkörpert es in Pinswang derzeit besser wie Thomas (18). Sieben Jahre liegen zwischen dem emotionalen Chaos seiner frühen Kindheit und dem bemerkenswert gefestigt wirkenden FOS-Schüler von heute, der ein klares Ziel hat: das Fachabitur.
Thomas war elf, als er 2015 als ältestes von insgesamt neun Premierenkindern in den neuen Rosenhof zog. Aus einem schlechten Mittelschüler wurde schnell ein guter. Über den M-Zug packte Thomas sogar die Mittlere Reife – und machte noch einen zweiten Schritt in Richtung Selbstständigkeit: Seit einem halben Jahr wohnt er nicht mehr im Rosenhof, sondern ganz allein: im neuen Zuhaus, dank der OVB-Leser.
Von wegen inszeniert
– die Ordnung ist echt
Höchste Zeit also für einen Besuch der OVB-Heimatzeitungen. Also hinein ins Zuhäusl. Es ist klein, aber oho. Im Parterre: ein gemütlich eingerichtetes, multifunktionales Wohlfühlzimmer, geeignet für Eltern- und Verwandtenbesuche ebenso wie für Besprechungen; daneben: ein Raum für Ergo-, Logo- und sonstige Therapien.
Wer zu Thomas will, muss die Treppe hinauf. Er wohnt im Ein-Zimmer-Appartment im ersten Stock. Er ist da, aber beschäftigt. Eine kurze, höfliche Begrüßung, dann sitzt Thomas wieder am Rechner: Schule dahoam, es läuft der Online-Unterricht. Indessen schaut sich der OVB-Reporter staunend um. Ein so stilvoll und aufgeräumtes Wohn- und Schlafzimmer eines 18-Jährigen hat er noch nie gesehen.
Das Bett gemacht, abstrakte Kunst und ein nüchternes Chanel-Plakat an der Wand, ein weiteres „Parfüm“ auf dem Couch-Tisch – Süskinds Roman ist derzeit Deutsch-Stoff an der FOS.
Die innere
Ordnung finden
Ein Budenzauber, extra inszeniert für den angemeldeten Besuch? „Keineswegs“, schütteln die Hausleiterinnen Maren Halle-Krahl (Kerbhaus) und Stefanie Seifert (Rosenhof) mit dem Kopf: „Eine äußere Ordnung mit klaren Regeln und Strukturen hilft unseren Kindern, zur inneren Ordnung zu finden.“
Verlässlichkeit, Struktur, Konstanz, Orientierung, Geborgenheit, Halt und Rituale spielen im Kinderhaus-Alltag eine große Rolle. Das Ergebnis zeigt sich nicht nur in der Wohnung, sondern auch in Thomas selbst: ein pfiffiger, aufmerksamer, gefestigt wirkender Bursche mit Selbstvertrauen und Zielen. Deshalb legt er sich an der FOS mächtig ins Zeug. Den Rückstand in Chemie und Physik hat er wettgemacht, die Noten werden immer besser. Läuft es so weiter, wird er das Fachabitur packen – anschließendes Studium nicht ausgeschlossen, vielleicht im Bereich Digitales und Technologie.
Thomas lernt allein, kocht selbst, wäscht selbst, macht selbst sauber – freilich nicht immer. Ganz „allein“ gelassen wird er noch nicht. Bis zu dreimal pro Woche kommt Sophie (37), seine Betreuerin, und ab und zu lässt er sich im Rosenhof den „Kaiserschmarrn für die Seele“ von Koch Valentin schmecken, der seit der gleichnamigen OVB-Reportage von 2018 im Inntal kein Geheimtipp mehr ist.
Apropos 2018: Der Spendenstrom war damals so breit, dass das Geld auch für die Erweiterung des Kerbhauses gereicht hat. Im neuen Anbau: erstens eine kleine „Chill-out-Area“ zum Basteln oder Fernsehen, zweitens ein Betreuerinnenraum mit Bad und Bett sowie drittens und viertens zwei Kinderzimmer für die beiden ältesten Mädchen im Kerbhaus. Dort haben jetzt Jana und Isabella (je 13) ihr eigenes kleines Reich – immer noch voll dabei, aber nicht mehr mittendrin.
Und wer weiß: Vielleicht lösen sie ja einmal Thomas im Zuhäusl ab, wenn er seinen Weg alleine geht und irgendwo studiert.
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