Traunstein/Rosenheim/München – Knapp 500 von 1450 angeklagten Fällen der Körperverletzung ließ der falsche Corona-Impfarzt Stefan H., ein Theologe und selbst ernannter Arzt aus Ottobrunn, vor der Sechsten Strafkammer am Landgericht Traunstein gestern über seine Verteidiger einräumen. Was die Anwälte nicht öffentlich erörtert haben wollten: Der Angeklagte war bei den illegalen Impfungen HIV positiv. Er hatte im Februar und März 2021 in den Impfzentren Rosenheim und Karlsfeld sowie über mobile Impfteams in zahlreichen Gemeinden im Landkreis Rosenheim Hunderten Impfwilligen entweder selbst eine Spritze verabreicht oder war als „verantwortlicher Arzt“ bei Impfaktionen durch Fachpersonal dabei. Der auf elf Tage anberaumte Prozess wird am 17. Februar um 9 Uhr fortgesetzt.
80-seitige
Anklageschrift
Das Interesse der Öffentlichkeit, abgesehen von den Medien, war gestern gering. Staatsanwalt Markus Andrä verzichtete beim Verlesen der 80-seitigen Anklageschrift auf die Daten der einzelnen Fälle. Vorsitzende Richterin Jacqueline Aßbichler informierte über ein Vorgespräch mit den Beteiligten, bei dem die Staatsanwaltschaft bei einem Geständnis eine Haftstrafe zwischen dreieinhalb und viereinhalb Jahren in Aussicht gestellt habe. Eine Verständigung sei nicht erfolgt.
Es ist richtig, dass sich der Angeklagte unter Vorlage einer gefälschten Approbation als Impfarzt beworben hat. Er besitzt keinerlei Doktortitel“, eröffnete Verteidigerin Carolin Arnemann aus München ihre etwa 50-minütigen Ausführungen. Sowohl in Rosenheim als auch in Karlsfeld sei er der Tätigkeit als Impfarzt nachgegangen, habe selbst Spritzen gesetzt – wie oft, wisse ihr Mandant nicht mehr – und Impfungen durch andere Personen begleitet. Die Anwältin hob heraus, der 50-Jährige habe ausschließlich fertige Spritzen verwendet, keine Impfungen vorbereitet. “
Carolin Arnemann verwies auf eine Fragebogenaktion unter den Impflingen, von denen übrigens kein einziger Nebenklage eingereicht hat. 279 davon hätten sich demnach auch im Wissen impfen lassen, dass der Angeklagte kein Arzt war. 523 Personen hätten „Ich weiß nicht“ angekreuzt, 153 gar nicht geantwortet. Somit treffe bei der Betrachtung zugunsten des Angeklagten auf 955 der 1450 Impflinge der Vorwurf einer Körperverletzung gar nicht zu.
Zu den Motiven ging die Verteidigerin auf die Lebensgeschichte des angeblichen „Dr. theolog. Uni. Dr. med. univ. Stephan H.“ ein. In Bad Godesberg geboren, sei er der Erste in seiner Familie, der studiert habe. Sein Lebenstraum sei gewesen, Priester zu werden. Als Priesteramtskandidat habe er in Bonn und München Vorlesungen zu Psychologie und Medizin absolviert. Ein weiteres Studium habe der Bischof untersagt. Nach vierjähriger Ausbildung sei der 50-Jährige aus der kirchlichen Laufbahn ausgestiegen – weil er den geforderten Gehorsam nicht leisten wollte und die Kirche als „diktatorisch“ empfand, so die Anwältin. Anschließend habe sich ihr Mandant zum „systemischen Therapeuten“, einem nicht anerkannten Beruf, weitergebildet und in der Trauerbegleitung gewirkt, auch in Hospizen, darunter Ottobrunn. Um Geld zu verdienen habe der 50-Jährige bei Ikea im Verkauf und bei Edeka an der Kasse gearbeitet. Nach der Verrentung 2019 habe er in Taufkirchen eine Praxis eröffnet, „um sich trotz seiner Beschwerden zu verwirklichen“, als „eine Art Beschäftigungstherapie“ und auch, um die Haushaltskasse aufzubessern. Aus einer Praxisgemeinschaft mit einem Arzt unter Verwendung einer selbst gefertigten Urkunde der Universität Wien sei nichts geworden.
Wie der Theologe zum Impfarzt wurde – dazu verwies die Verteidigerin auf die Mutter des Angeklagten, die aus Sorge wegen Corona geimpft werden wollte. Im Spritzen sei er durch den Vater und seinen Hausarzt geschult gewesen. Der 50-Jährige habe Ende 2020/Anfang 2021 kein Verständnis gehabt für den langsamen Anlauf der Impfkampagne. Er habe Verträge geschlossen mit den Impfzentren und Qualifikationen behauptet, die er nicht hatte. Dabei habe er gewusst, dass im Notfall immer ein Springerteam zur Verfügung stand und sechs Impfärzte vor Ort waren. Die Anwältin verneinte irgendwelche Zahlungen.
„Habe niemanden
schädigen wollen“
Ihr Mandant habe das Gefühl gehabt, „aufzublühen“. Er wolle sich „bei allen entschuldigen, die er verletzt und enttäuscht hat“. Schädigen aber habe er niemanden wollen. Ans Tageslicht gelangte der Fall durch den Leiter eines Impfzentrums, der sich am 23. März 2021 an die Kripo Rosenheim gewandt hatte.