Riedering – „Barmherzige Brüder“ sagt Peter Weigel, während er mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft malt. Er schnaubt, um zu zeigen, was er von diesen „Barmherzigen“ hält. Nicht gar so viel, jedenfalls nichts, was von Barmherzigkeit kündet. Weigel sitzt an seinem Tisch im Wohnzimmer seines Hauses in Riedering. Seinem Gast hat er Kaffee und Butterbrezn angeboten, bevor er 70 Jahre in die Vergangenheit reist.
Peter Weigel spricht von einer Zeit in seiner Kindheit. Von den drei Jahren, die er die „dunkelsten meines Lebens“ nennt. Von den Jahren in der Obhut der Kirche. Bei den „Barmherzigen Brüdern“, die in Algasing bei Dorfen ein Schülerheim, eine Art Internat, unterhielten.
Ein Leitstern
für ein Regime
Von 1952 bis 1954 war Weigel dort. Und erlebte dort Kälte, ein Klima der Angst und Prügel. Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gerieten Schüler in diesem Ortsteil von Dorfen (Kreis Erding) unter ein Regiment, das ihnen schriftlich mitteilte, wer das Sagen, besser: die Befehlsgewalt, habe. „Leitstern“, so hieß diese Regelkunde. Jeder Schüler erhielt sie. Darin stand zu lesen, wer die „Vorgesetzten“ des Schülers seien. Ganz vorne der Prior, dann Lehrer und Präfekte. Wichtige Regel: „Der Schüler muss dem Vorgesetzten Gehorsam bezeigen.“ Es ist ein Buch über Zucht und Ordnung. Es klingt eher nach Wehrmacht als nach Erziehung von Kindern.
Weigel beschreibt ein Klima der Willkür. „Gegen eine Züchtigung war man nie gefeit, es konnte immer passieren, dass man eine fängt“, sagt er. Auch so etwas wie Sippenhaft habe es gegeben. „Wenn was war, sich aber keiner gemeldet hat, dann musste sich die ganze Klasse hinknien, um drei Überlegte zu empfangen.“ So nannten Weigel und seine Schulkameraden Schläge mit dem Rohrstock über Po und Rücken.
Ansonsten muss es tatsächlich wie in der Armee gewesen sein. „Wir mussten Betten bauen, wie beim Militär“, berichtet er. „Und wir hatten Spinde. Wenn der Präfekt meinte, es sei unordentlich, dann flog da alles raus.“ Es gab Schlafsäle, für „40, 45 Kinder“, es gab Speisesäle. Und Waschsäle: „Die Zahnbürsten im Becher hatten in einer Reihe ausgerichtet zu stehen“, sagt Weigel.
Der Riederinger schildert eine seltsame, manchmal absurde Welt, in der die Herrscher Fidelis, Suitbert oder Sophronius hießen. Es habe auch menschliche Lehrer gegeben, sagt Weigel. Bei manch anderen gruselt es den Zuhörer hingegen. In der siebten Klasse erlebte er einen Präfekten, der vier Rohrstöcke sein Eigen nannte, in vier verschiedenen Stärken. „Wenn der einen bestrafen wollte, stand er erst mal vor den vier Rohrstöcken, die da hingen, und fragte, welchen soll ich denn jetzt nehmen?“ Weigel malt das Bild einer düsteren Anstalt, in der die Brüder vom Orden des Johannes von Gott einander selbst das Leben unerträglich machten. „Das waren richtige Schlägertypen“, erzählt er. „Vielleicht, weil sie gefrustet waren.“
Weigel will nichts verteufeln. Nicht alles hat er in schlechter Erinnerung. Das Essen sei gut gewesen, sagt er, Mangel jedenfalls herrschte nicht, das Kloster hatte schließlich seine eigene Landwirtschaft. Klassenweise seien sie zum Kartoffelklauben eingesetzt worden, immer mit einem Korb für zwei Schüler. Wer unter den Augen der Fratres die Erdäpfel am schnellsten aufklaubte, erhielt zur Belohnung ein Glas Limonade. Auch die Schule sei gut gewesen, besser als das jedenfalls, was er in seinem Heimatort Ecking erlebt hätte: Vier Klassen vormittags, vier Klassen nachmittags. Und das alles in einem Raum – so sah in der frühen Nachkriegszeit mitunter das Schulwesen im Agrarstaat Bayern aus.
Algasing bot da offenbar mehr. Und deswegen brachten viele Eltern ihre Zöglinge nach Dorfen. Mindestens zehn seiner Schulkameraden seien aus Rosenheim gewesen, schätzt Weigel, „aus allen Schichten“.
Waren es nur Schläge und Schikanen, oder wurden Kinder wie im Internat Ettal auch sexuell missbraucht? „Ich weiß es nicht“, sagt Weigel, ihm jedenfalls sei nichts dergleichen widerfahren, er habe auch nichts davon gehört. Allerdings sei bei Klassentreffen bei manchem Schüler noch Jahrzehnte später „regelrecht der Hass hochgekommen“, sagt Weigel. Nur wegen der Erinnerung an Schläge?
Er musste, vielmehr durfte, nach drei Jahren gehen, weil er sich als Rädelsführer erwiesen hatte. Auch sein jüngerer Bruder verließ das Internat. „Der hat seitdem mit der Kirche abgeschlossen“, sagt Weigel. Seinen Wehrdienst leistete er in Oldenburg ab, nicht weit weg von der Küste. Er habe die See immer geliebt, sagt der Oberbayer. Vielleicht, weil man da nur Weite sieht und keine Mauern.
Probleme mit
Autoritäten
Später arbeitete er für Bayer, dann für den Großbestatter Denk. Es blieb seine Haltung: „Ich mag keine Ungerechtigkeit.“ Und es blieb sein gespanntes Verhältnis zu Autoritäten. Die Kirche? Weigel atmet durch. Sogar im Pfarrgemeinderat sei er gewesen. Er war auch im Trachtenverein und im Gartenbauverein, wie man das so macht in einem Ort, in dem man tief verwurzelt ist.
Das Verhältnis zur Kirche als Institution ist bei Weigel abgekühlt. Aber er sagt auch, es sei dem Orden hoch anzurechnen, dass er sich 2010 entschuldigt habe. Im früheren Internat betreiben die Brüder nun eine Pflegereinrichtung für Menschen mit Behinderungen. Auch das versöhnt Weigel mit seiner Vergangenheit. Durch das Missbrauchsgutachten aber sei nun vieles wieder hochgekommen. „Da wollte ich“, so sagt es Weigel, „meine Geschichte erzählen. Um zu zeigen, wie zerbrechlich ein Kinderherz ist.“