Rosenheim – Die eine Krise ist noch längst nicht überstanden, da setzt die nächste bereits mit Wucht ein: Nach zwei Jahren der Corona-Pandemie bereiten sich Schulen und Kindertagesstätten nun darauf vor, ukrainische Kinder zu betreuen und zu unterrichten, die mit ihren Müttern vor Putins Krieg geflohen sind. Alles andere als ein einfaches Unterfangen.
„Nicht weit vor
dem Kollaps“
„Wir stehen nicht weit vor dem Kollaps.“ So drastisch sagt es Erwin Lehmann, Kreisgeschäftsführer der Caritas in der Region Rosenheim. Die Corona-Pandemie habe Kinder und Mitarbeiter belastet, und sie sei mitnichten überstanden. Im Moment fehlten besonders viele Mitarbeiter, weil sie positiv getestet und damit in häusliche Infektion geschickt worden oder sogar tatsächlich an Covid erkrankt seien. Christa Tolksdorf, Fachdienstleitung Kindertagesstätten des Caritas-Zentrums Rosenheim, meldet bereits, dass die Betreuungszeiten runtergefahren werden. Eben wegen des Mangels an Personal, den Corona erbarmungslos sichtbar macht.
Ein neuer
Stresstest
In dieser angespannten Lage „kommt nun der Ukraine-Krieg on top“, sagt Lehmann. Ein neuer Stresstest. Da werde man vom gewohnten Weg abweichen müssen, schwant es ihm. Weder habe man das Geld, um viel mehr Mitarbeiter einzustellen, noch gebe diese qualifizierten Mitarbeiter überhaupt der Arbeitsmarkt her. „Assistenzkräfte könnten aber mithelfen, auch wenn sie weniger qualifiziert sind“, meint er. Dafür müsse allerdings der Gesetzgeber sein Okay geben, zudem müsse die Finanzierung der Aushilfen sichergestellt sein. Was er sich auch vorstellen kann: Der Freistaat erlaubt für einige Zeit mehr Kinder pro Betreuerin.
Auf einen pragmatischen Umgang der Behörden mit dem Problem hofft auch Peter Kloo, Bürgermeister von Kolbermoor und Kreisvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt. Er war schon einige Male in der Ukraine. Unter anderem besuchte er vor einigen Jahren Donezk, wo er beim Anblick des Stadions von Fußballclub Schachtar Donezk an die Allianz-Arena in München erinnert wurde. „Derselbe Architekt“, sagt Kloo. Aber nicht nur da sieht er Ähnlichkeiten und Parallelen. Die Kultur der Ukrainer sei ziemlich ähnlich. Nicht genug damit: „Da kann man sich sogar eine Scheibe abschneiden.“ Denn die Ukrainer verwendeten viel Mühe auch auf die kulturelle Erziehung, auf Musik, bildende Künste, aber auch auf Sprachen. „Die Ukrainer sind unheimlich gut aufgestellt“, sagt Kloo.
Unter den Kriegsflüchtlingen seien sicherlich viele Frauen, die in der Lage sind, als Ergänzungskraft zu helfen, meint er. Aber: „Es wird spannend, wie wir das mit den bürokratischen Hürden schaffen.“
Darüber macht sich auch Angelika Elsner Gedanken. Die Leitung des Staatlichen Schulamts hat sie übernommen, als die Delta-Welle der Corona-Pandemie ihrem Höhepunkt entgegenstrebte; nun hat sie das Management einer neuen Krise zu schultern. Sie berichtet von Willkommensgruppen, an denen gerade gearbeitet werde. „Wir sind dabei, die Steuerungsgruppe dafür zu etablieren“, berichtet sie. Erst drei Monate nach der Ankunft greife die Schulpflicht. Eine Frist, in der die schultypübergreifenden Willkommensgruppen mit Struktur, einer Atmosphäre des Kennenlernens und der Vermittlung sprachlicher Grundkenntnisse schon mal die Basis für die Integration der neu Angekommenen legen könnten. Schulpsychologen und Beratungslehrer könnten sich um traumatisierte Kinder und Jugendliche kümmern, pensionierte Lehrer, so hofft auch sie, beim Unterricht mithelfen. Dessen ungeachtet sei an den Schulen „viel Offenheit und Hilfsbereitschaft“ festzustellen.
Engagement
soll andauern
Die stellt auch Susi Adl-maier fest, Vorsitzende des Elternbeirats der Grundschule Erlenau. Ihre Schule habe bereits für die Ukraine gesammelt und wolle sich weiter engagieren. „Die Menschen wollen helfen“, sagt sie. Das gelte nicht nur für die Erwachsenen. „Nach zwei Jahren der Isolation wegen Corona gilt für die Schüler erst recht: Helfen tut gut.“
Die Schulen werden bereitstehen, das denkt auch Kai Hunklinger, Leiter der Grundschule Fürstätt in Rosenheim. „Wir sind gerade in der Planungsphase und schauen, was wir an Ressourcen haben.“ Kritisch wird‘s immer beim Personal, so viel wird auch aus seinen Berichten deutlich. „Wenn das Schuljahr startet, ist jede Lehrerstunde verplant.“ Nun stelle sich die Frage: Sind Teilzeitkräfte bereit aufzustocken, wie viele pensionierte Lehrer sind bereit zurückzukehren? Auch Hunklinger hofft auf Unterstützung aus den Reihen der erwachsenen Ukrainer. Immerhin sei die Kultur sehr ähnlich. Aber auch da stellt sich die Frage: Wie werden diese Assistenzkräfte bezahlt?
In dieser Gleichung stehen weitere Unbekannte. Mit wievielen Flüchtlingen muss man in der Region Rosenheim rechnen? Der Exodus der Ukrainer hat vor nicht einmal drei Wochen eingesetzt, und doch sind schon Millionen auf der Flucht. Nicht wissen, wie viele Kinder und Jugendliche kommen könnten, wie fit sie in Fremdsprachen sind, für welche Schultypen sie infrage kommen – das macht auch Walter Baier, Leiter des Gymnasiums Bruckmühl, zu schaffen. Er vermisst, wie auch Christa Tolksdorf, Regelungen und Ansagen vom Freistaat, wer wie und was finanziert. Die Lage sei nunmehr – auf dem Höhepunkt der Pandemie – höchst kompliziert. „Räume und Personal haben wir eigentlich nicht“, sagt er. „Wir fragen ein bisserl herum, wer traut sich das zu, wer kennt jemanden, der sich das zutraut oder gar Ukrainisch kann?“ Und wie schafften das eigentlich die Polen, mit noch viel mehr Flüchtlingen? „Vielleicht machen die es etwas einfacher, vielleicht muss da nicht alles perfekt sein.“ Derweil bereitet sein Gymnasium die Turnhalle auf Flüchtlinge vor.
Natürlich mache man sich Kopfzerbrechen, sagt Schulleiter Hunklinger. „Man will‘s ja schließlich gescheit machen.“ Die Schüler in eine Halle schicken, einen Ball reinwerfen und die Tür zumachen, das ginge auch, meint er. „Aber mit Willkommenskultur hätte das natürlich nichts zu tun.“