Traunstein/Altötting – Eine 57-Jährige und ihr 33-jähriger Sohn durften am Rand einer Corona-Demonstration am 16. Mai 2020 in Traunstein filmen, wie sich nachträglich herausstellte. Dadurch waren ihre Widerstandshandlungen gegenüber Polizisten ebenfalls rechtens (wir berichteten). Das Amtsgericht Traunstein mit Richter Wolfgang Ott gelangte jetzt zu dieser Überzeugung und sprach beide Angeklagten zum Teil frei. Übrig blieben jedoch mehrere Beleidigungen, die das Gericht mit Geldstrafen von jeweils 15 Tagessätzen ahndete.
Wird das Urteil rechtskräftig, muss die Frau unter Berücksichtigung ihrer Einkommensverhältnisse insgesamt 375 Euro Strafe zahlen, ihr Sohn 600 Euro. Die Prozesskosten müssen sie lediglich zum Teil tragen. Für die Delikte aus den Teilfreisprüchen erlegte der Vorsitzende die Kosten der Staatskasse auf.
Das Amtsgericht hatte die schon fünfmal terminierte Hauptverhandlung nach Einsprüchen beider Angeklagter, die mittlerweile im Landkreis Altötting wohnen, gegen die vorherigen Strafbefehle zuletzt Mitte Dezember 2021 abbrechen müssen, beim letzten Mal wegen Erkrankung des Hauptzeugen. Der bei dem damaligen Einsatz in Traunstein leicht verletzte Beamte der Bayerischen Bereitschaftspolizei konnte gestern ein weiteres Mal krankheitsbedingt nicht vor Gericht erscheinen.
Der Polizist hatte sich gemäß Anklage von Staatsanwalt David Heberlein an jenem Tag im Gerangel mit dem 33-Jährigen einen Kratzer an einem Bein zugezogen – angeblich durch Gegenwehr des 33-Jährigen, als dieser kontrolliert zu Boden gebracht werden sollte, wie es in der Anklage hieß. Zur Last lagen dem Sohn deshalb zunächst Widerstand gegen Polizeibeamte, eine vorsätzliche Körperverletzung und eine Beleidigung mit den Worten „Drecksäcke“. Der 33-Jährige hatte seiner die Polizei filmenden Mutter zu Hilfe kommen wollen, die sich gerade gegen die Abnahme der Kamera heftig sperrte und wehrte. Dabei stieß die 57-Jährige Beleidigungen aus wie „feige Säcke“ und „Arschlöcher“.
Richter Wolfgang Ott hörte jetzt zwölf Zeugen an – acht Polizeibeamte und vier Demonstrationsteilnehmer beziehungsweise Passanten. Danach erklärte der Vorsitzende, die Vorwürfe Widerstand und Körperverletzung stünden nicht mehr zur Debatte. Abweichend von der Anklage hätte die 57-Jährige in dem damaligen konkreten Fall Aufnahmen machen dürfen. Der Vorsitzende konstatierte: „Das Abnehmen der Kamera war nicht rechtens.“ Außerdem liege die Körperverletzung „im untersten Bereich“.
Das sahen Staatsanwalt David Heberlein sowie die Verteidiger Christian Steinberger und Anja Aringer, beide aus München, rechtlich genauso. Deshalb widmeten sich die Schlussanträge nur mehr den Beleidigungen. Für die 57-Jährige war der psychiatrische Sachverständige, Landgerichtsarzt Fredi Watzlawik, zuvor zu verminderter Schuldfähigkeit bei dem Vorfall aufgrund einer akuten Belastungssituation gelangt.
Der Staatsanwalt forderte für die Mutter gestern wegen zweifacher Beleidigung 30-mal 25 Euro Geldstrafe, somit 750 Euro gesamt, für den Sohn 30 Tagessätze à 50 Euro, somit total 1500 Euro, wegen nur einer Beleidigung. Die Verteidiger plädierten jeweils auf völligen Freispruch. Die Beleidigungen der 57-Jährigen seien aufgrund der unrechtmäßigen Handlungen der Polizisten nicht strafbar gewesen. Während der Sohn im „letzten Wort“ nichts mehr sagte, meinte die bezüglich der Schimpfworte geständige Mutter: „Ich habe in Notwehr gehandelt.“
Dem widersprach Richter Wolfgang Ott im Urteil. Die Beleidigungen seien nicht durch Notwehr gedeckt. Die Wegnahme der Kamera habe die 57-Jährige verhindern dürfen: „Der Widerstand war erlaubt.“ Der Vorsitzende wörtlich: „Dazu bedarf es aber nicht der Ausdrücke ‚Arschloch‘ und ‚Drecksack‘.“ Monika Kretzmer-Diepold