Rosenheim – Als Marina Barleben am 23. Februar ins Bett ging, war die Welt noch in Ordnung. Die 43-jährige studierte Lehrerin lebt seit 2006 in Rosenheim und arbeitet als Kinderpflegerin an der Caritas-Philipp-Neri- Schule in Rosenheim. Ihre Heimat liegt eigentlich in der Ukraine. Genauer gesagt in der 30000 Einwohner Stadt Balaklija im Osten des Landes – nicht unweit der Großstadt Charkiw und der russischen Grenze.
Aus eben jener Gegend bekam Barleben in den frühen Morgenstunden des 24. Februar die ersten schrecklichen Nachrichten. „Nachdem ich aufgestanden bin, habe ich die Nachricht von meiner Freundin auf dem Handy gelesen, dass es überall laut kracht“, sagt Barleben. Kurze Zeit später gab es weltweit die ersten Berichte über Raketen- und Bombeneinschläge rund um und in Charkiw. „Ich habe erst mal nicht geglaubt, dass das wirklich passiert“, sagt Barleben. Bis zuletzt ging sie davon aus, dass die russischen Truppenbewegungen nur eine Provokation seien.
Bei Minusgraden
nächtelang im Keller
Die erste Sorge galt ihrem Vater Anatolii Druzhkov, der in Balaklija lebt. Die Kleinstadt ist nur 90 Kilometer von Charkiw entfernt. Noch am selben Morgen organisierte Barleben, dass der 72-Jährige bei einer Freundin in einem kleinen Dorf, außerhalb von Balakija, unterkommen konnte. Dort gab es bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Gefechte und galt so als sicher. „Die ersten zwei Wochen waren sehr ruhig“, sagt Anatolii Druzhkov. Er habe kaum etwas vom Krieg mitbekommen.
Deshalb entschied er sich, wieder nach Balaklija zurückzukehren. Doch die erste Nacht zuhause musste Druzhkov gleich im Keller des Mehrfamilienhauses verbringen. Kurz nach seiner Ankunft heulten die Sirenen. Wenig später waren die ersten russischen Flugzeuge über der Stadt zu sehen.
„Das Schlimmste war die Kälte und die Dunkelheit und dass ich die Explosionen nur hören konnte“, sagt Druzhkov. Die darauffolgenden Tage saß er abwechselnd im Flur der Wohnung – weit weg von den Fenstern – oder im Keller. Immer begleitet von der Angst, dass doch mal eine Rakete das Haus treffen könnte.
Fluchtwege durch
Kämpfe blockiert
An eine Flucht war in den ersten Wochen nicht zu denken. Der einzige Weg in Sicherheit führte mit dem Zug nach Charkiw, allerdings nur wenn es auf der Strecke dorthin kurze Feuerpausen gab. Der Weg in den Süden nach Isjum war zu diesem Zeitpunkt nicht möglich. Die Stadt war schon „mehr oder weniger dem Erdboden gleichgemacht“, sagt Barleben.
Mitte März konnte Druzkhov dann endlich eine Gefechtspause nutzen und stieg in einen Zug in Richtung der polnischen Grenze. Gerade noch rechtzeitig. Wenige Tage nach seinem Aufbrauch traf eine Rakete das Wohnhaus, welches darauf fast komplett ausbrannte. Inzwischen ist Balaklija von russischen Truppen eingenommen.
Seit dem 20. März ist Anatolii Druzhkov nun bei seiner Tochter in Rosenheim. „Die erste Zeit, seitdem er hier ist, hat Papa nur gezittert“, sagt Barleben. Umso erleichterter ist sie, dass er nun in Sicherheit ist und sich von den Strapazen erholen kann.
Zehn Tage vorher konnte Barleben bereits ihrer Freundin Irina Shcherbyna, eine sichere Bleibe bieten. Die 43-jährige Frau ist mit ihrem 17-jährigen Sohn aus Charkiw geflohen. Die Entscheidung zur Flucht fiel nach einer schlimmen Nacht im Schutzbunker.
Bis 9 Uhr morgens mussten sie täglich in den kalten Räumen ausharren, sagt Shcherbyna. Teilweise gab es auch tagsüber Raketenangriffe. „Es war immer ein Hin und Her zwischen Wohnung und Keller“, sagt Shcherbyna. Je nachdem, wie nahe die Einschläge kamen.
Deshalb wollte Irina Shcherbyna irgendwann einfach nur weg. Trotzdem fiel ihr die Flucht nicht leicht, da sie ihren Ehemann in Charkiw zurücklassen musste. „Das Gefühl, jemanden im Kriegsgebiet zurückzulassen, kann man nicht beschreiben“, sagt Shcherbyna.
Überfüllte Züge
nach Polen
Am Morgen des 8. März ist sie schließlich mit ihrem Sohn in einen Zug gestiegen. Drei Stück fuhren täglich von Charkiw in den Westen – meist in der Früh, da es zu dieser Zeit am sichersten war. „Die Züge waren so voll, dass nicht einmal Platz am Boden zum Sitzen war“, sagt Shcherbyna.
Stundenlang mussten sie mit hunderten anderen Menschen dicht zusammengedrängt in dem überfüllten Zug stehen. Von Lemberg an der polnischen Grenze brachte sie ein Bus dann direkt nach München. Danach ging es um 3 Uhr morgens weiter nach Rosenheim und damit auch in Sicherheit.
Stadt in
Schutt und Asche
Mitgenommen haben Anatolii Druzhkov und Irina Shcherbyna nur das Nötigste und das, was sie am Körper hatten. Am liebsten würden die beiden auch so schnell wie möglich wieder zurück in die Ukraine. „Unser Leben ist dort und nicht hier“, sagt Druzhkov.
Eine Rückkehr wäre aber nicht so leicht, da vor allem Charkiw stark beschädigt ist. Überall seien ausgebrannte Autos, die Parks und Grünanlagen sind zerstört und selbst die Tiere im Zoo von Charkiw seien größtenteils tot. „Ein normales Leben ist nicht mehr möglich“, sagt Shcherbyna.
Auch deshalb will sie sich jetzt erst einmal einen Arbeitsplatz suchen, um die Gastfreundschaft nicht auszunutzen und in der Hoffnung, das Erlebte etwas verdrängen zu können.