Tel Aviv/Rosenheim – Frühling in Tel Aviv, das ist anders als in anderen Städten des Mittelmeers. Tel Aviv bedeutet in etwa so viel wie Ort des Frühlings, es ist Zentrum des gesellschaftlichen Lebens und der Wirtschaft in Israel, dynamische Party-Metropole mit Meer-Blick. Und die Dizengoffstraße ist Tel Avivs Herz. „Eine Straße zum Einkaufen, eine Ausgeh-Meile“, berichtet Heidi Geyer per Telefon aus Tel Aviv. „Es sind sehr viele Menschen unterwegs. Es tobt das Leben, als habe es nie eine Pandemie gegeben.“
Der Terror trifft
Nichtsahnende
Das berichtet sie kurz nach ihrer Ankunft. Ein paar Stunden danach wird den Menschen in Tel Aviv eben an der Dizengoffstraße erneut vor Augen geführt, dass es neben der Corona-Pandemie eine andere, altbekannte Bedrohung gibt – die Drohung des Terrors.
Zunächst sieht alles nach einem ganz normalen, lebensfrohen Tel Aviver Abend aus. Die Menschen schlendern über den von unzähligen Lichtern erleuchteten Boulevard, stehen plaudernd vor Bars, sitzen vor den Restaurants unter großen Schirmen an Tischen auf dem Gehsteig. Auch vor der Ilka-Bar stehen viele Menschen. Die Bar ist beliebt bei jungen Menschen, bei Einheimischen ebenso wie bei Touristen. Doch auf einmal hallen Schüsse durch die Nacht. Ein Attentäter, ein 28-jähriger Mann aus Dschenin im Westjordanland, schießt auf Menschen, die nur den milden Abend genießen wollen. Zwei Männer tötet er, bis zu zehn weitere verletzt der Mann. Dann flüchtet er.
Die Polizei trifft kurz danach ein, Hunderte von Beamten sichern den Ort des Anschlags, durchkämmen die Straßen. Heidi Geyer sieht viel Blaulicht, hört das Knattern von Hubschrauber-Rotoren über der City. Menschen laufen panisch durch die Straßen. Die Sicherheitskräfte geben den Anwohnern die Anweisung, hinter verschlossenen Türen zu warten, bis sie den Mörder gestellt haben. Es ist, als ob die Stadt den Atem anhält.
Mithilfe der Bilder von Überwachungskameras finden die Sicherheitsbeamten den Palästinenser neun Stunden später in Jaffa, der alten Siedlung, deren Vorort Tel Aviv ursprünglich mal gewesen war. Der 28-Jährige versteckt sich in der Nähe einer Moschee hinter einem Auto. Es kommt zum Schusswechsel, der Attentäter wird tödlich getroffen.
Dutzende stehen an den Absperrungen
Am Tag nach dem Anschlag erlebt Heidi Geyer ein Kontrastprogramm. Vor der Ilka-Bar: Dutzende Menschen, wahrscheinlich sind es über hundert, stehen an den Absperrungen, schweigend, „man sieht auch Menschen beten.“ So schildert Heidi Geyer die Reaktion der Menschen. Es sind so viele gekommen, dass sie sich bis auf die Straße hinaus stauen. „Der Verkehr stockt“, sagt sie.
Die Tel Aviver legen Blumensträuße ab, überall vor den blauen Gittern, die die Polizei aufgestellt hatte, brennen Kerzen, auch israelische Flaggen sieht Geyer. Doch diese Betroffenheit beschränke sich auf den Ort des Geschehens. Ein paar Meter weiter gehe das Leben – zumindest oberflächlich betrachtet – den gewohnten Gang.
Heidi Geyer berichtet von Gesprächen mit jungen Israelis. „Einfach weitermachen ist für uns der einzig richtige Weg“, sagt einer zu ihr. Er erinnert daran, dass vor ein paar Jahren ganz in der Nähe schon einmal ein Attentat passiert sei. Alle äußern sich erleichtert – weil die Polizei den Attentäter ausgeschaltet habe. Die Leute in den Cafés essen, sie seien vergnügt wie immer. „Die Stimmung ist nicht gedämpft“, berichtet die Reporterin.
Sind Israelis an Krieg und Terror gewöhnt? Ist das Gelassenheit? Oder ist das normale, das umtriebige Leben in Tel Aviv noch ein wenig schwerer unterm Deckel zu halten als anderswo? Heidi Geyer erlebt Menschen, die sorglos wirken. Mit ihrer Reisegruppe besucht sie den Carmel-Markt. Auch hier hat das Leben zum Tel Aviver Takt zurückgefunden. „Gesteckt voll“, berichtet die OVB-Reporterin.
Doch für sie hat sich ein Schatten auf den Tag gelegt. Die beiden Ermordeten gehen ihr nicht aus dem Kopf: „Das waren doch nur zwei Leute, die einen schönen Abend haben wollten.“