Rosenheim – Der Unterarm des älteren Mannes sieht nicht gut aus. Das Handgelenk ist dick geschwollen und blau angelaufen. Bewegen kann der Rentner seinen Arm ab dem Ellbogen bis zu den Fingerspitzen auch nicht mehr. „Wissen Sie denn noch, was passiert ist“, fragt Flota Abdullahu ihn. Die 26-Jährige ist leitende Pflegerin der Zentralen Notaufnahme (ZNA) des Romed-Klinikums in Rosenheim. „Ich kann mich nicht erinnern, aber ich glaube nicht, dass es weit fehlt. Höchstens der Finger ist gebrochen“, entgegnet der Rentner. Allerdings sind auch im Gesicht des Mannes Schrammen des Sturzes im Altenheim zu erkennen. „Da ist schon mehr passiert, das muss operiert werden. Ihr Unterarm ist gebrochen“, sagt die Pflegerin. Als sie ihm gerade das weitere Vorgehen erklären will, klingelt das Telefon an ihrer Brusttasche: Schockraumalarm.
Versorgung
Schwerstverletzter
In wenigen Minuten soll ein Hubschrauber mit einem Schwerstverletzten eines Autounfalls auf dem Dach des Krankenhauses landen. Dieser muss umgehend in den Schockraum – ein speziell ausgestatteter Behandlungsraum für die Versorgung Schwerverletzter. Selbst eine Behandlung unter laufender Wiederbelebung ist dort möglich. Da der Patient gerade noch von der Feuerwehr aus dem Wrack befreit wurde, ist der Zeitpunkt der Einlieferung noch nicht abzusehen.
Aus allen Bereichen der Notaufnahme kommen Ärzte und Pfleger herbeigeeilt. Von irgendwo ist das Piepsen eines Alarmsignals zu hören. „Wir müssen die anderen Patienten jetzt warten lassen“, sagt Abdullahu, „der Notfall hat Vorrang.“ Bis nähere Informationen vorliegen, versorgen Abdullahu und ihre Kollegen die anderen Patienten, allerdings nur so weit, dass die Behandlung sofort unterbrochen werden kann.
Nach rund zehn Minuten dann die Entwarnung: Der Hubschrauber mit dem Verletzten fliegt ins Klinikum nach Traunstein. Den genauen Grund weiß die Klinik nicht. „Grundsätzlich trifft die Integrierte Leitstelle die Entscheidung, welche Klinik zur Belegung eines traumatologischen Schockraums ausgewählt wird. Dabei spielen Faktoren wie Aufnahmebereitschaft, Einschätzung des Notarztes, Wetterverhältnisse oder Spritmenge des Hubschraubers mit rein“, erklärt Elisabeth Siebeneicher, Pressesprecherin des Romed-Verbunds.
Über 100
Patienten am Tag
Es ist ungewohnt ruhig an diesem Freitagnachmittag in der Rosenheimer Notaufnahme. Obwohl fast alle Behandlungszimmer belegt sind, ist von Hektik nichts zu spüren. Hin und wieder hört man leises Stimmengewirr und das Quietschen von Schuhsohlen auf dem Gummiboden. „Dass es an einem Freitag so ruhig ist und man sich mehr Zeit für jeden Einzelnen nehmen kann, freut mich. Das ist aber sehr ungewöhnlich“, sagt Abdullahu. Normalerweise würde der Freitag zu den Spitzentagen gehören, was die Patientenanzahl betrifft. Da könnten es auch schon mal knapp 150 am Tag sein. „Der Tagesdurchschnitt liegt heuer bei 103 Patienten“, sagt Siebeneicher. An diesem Tag sind es bis kurz vor Mitternacht rund 50 Patienten.
„Das ist eher ein ruhiger Dienst“, sagt Abdullahu. Die achtstündige Spätschicht der 26-Jährigen in der Notaufnahme, die aus einem unfallchirurgischen und internistischen Bereich besteht, begann um 15 Uhr. Zusammen mit einer Kollegin und einem Arzt ist sie für die unfallchirurgische Abteilung zuständig. Zu zweit kümmern sie sich um sechs Behandlungszimmer, teilweise um mehrere Patienten gleichzeitig. Dadurch wären auch Tage mit weniger Patienten stressig, je nach Verletzungsbild. „Drei oder vier Kollegen mehr wären schön“, sagt Abdullahu und seufzt, „aber ich bin über jeden froh, der hier ist“, führt die Pflegerin fort. Der Personalmangel sei auch eine Folge der Corona-Pandemie. Nach Angaben der Romed-Kliniken gab es beim Pflegepersonal der Notaufnahme in Folge der Pandemie einige Kündigungen und Versetzungsanträge in andere Abteilungen.
Beim Thema Corona kann Flota Abdullahu nur müde lächeln. Das sei krass gewesen. „Das war schon ein ganz anderes Arbeiten als normal“, sagt sie, „manchmal haben wir gar keine Pause machen können.“ In den beiden vergangenen Jahren hätten sie und ihre Kollegen immer wieder über ihre psychischen als auch physischen Grenzen gehen müssen. „Bei fast allen Kollegen war es die mentale, aber auch die körperliche Belastung“, sagt Abdullahu. Früher wären sie nach einer Spätschicht, die bis 22 oder 23 Uhr geht, auch das ein oder andere mal zum Feiern gegangen. „Das ist jetzt nicht mehr drin, da willst du einfach nur noch heim ins Bett“, erzählt Abdullahu. „Irgendwie haben wir das trotzdem geschafft, aber es fehlt vor allem an der Erholung“, führt die Pflegerin fort.
Laute
Alarmsignale
Zeit zum Bedauern hat die 26-Jährige nicht, denn im Hintergrund meldet sich ein Monitor mit lauten Alarmsignalen. Auf dem Bildschirm, der im Eingangsbereich an der Wand hängt, übermittelt die Integrierte Leitstelle alle Neueinlieferungen samt erster Diagnose des Rettungsdienstes ans Personal der Notaufnahme. In wenigen Augenblicken wird eine Frau mit Verdacht auf einen Oberschenkelhalsbruch eingeliefert. Da derartige Verletzungen, vor allem im höheren Alter, oftmals zu Komplikationen führen können, ist höchste Eile geboten. Die Frau muss schnellstmöglich operiert werden. In einem der anderen Behandlungszimmer wartet bereits ein Mann mit mehreren Schürfwunden nach einem Rennradunfall. „Da müssen wir noch die Wunden reinigen und abdecken“, erklärt die Pflegerin.
Menschlichkeit
ist gefordert
Wieder ein Zimmer weiter braucht ein 13-jähriges Mädchen besondere Fürsorge. Die Schülerin hat sich beim Trampolinspringen Schien- und Wadenbein gebrochen und muss im Krankenhaus bleiben. „Ich verstehe deine Sorgen, es wird wieder alles gut. In ein paar Tagen kannst du wieder heim“, erklärt Abdullahu dem weinenden Mädchen. Für mehr Aufmerksamkeit ist jetzt keine Zeit. Im Laufschritt geht es weiter zur inzwischen eingelieferten Frau. Die Röntgenaufnahmen bestätigen den Oberschenkelhalsbruch. „Wir bereiten sie jetzt für den OP vor, da kommt gleich die Ärztin für das Anästhesiegespräch“, sagt Abdullahu zu der älteren Dame. Innerhalb einer Stunde nach ihrer Einlieferung ist die Frau bereits auf dem Weg in den Operationssaal.
Kurz vor 23 Uhr ist Zeit für ein erstes Resümee: Verhältnismäßig wenig los und trotzdem nur ein paar Minuten Pause gemacht. Das sei der Alltag, bestätigt die Pflegerin. Während sie erzählt, dass man versuchen müsse, die täglichen Bilder nicht mit nach Hause zu nehmen, wird sie noch mal gebraucht: Fast alle Behandlungszimmer haben sich wieder gefüllt. Ein pünktliches Ende um 23 Uhr rückt damit – mal wieder – in weite Ferne.