Rosenheim – Es sind Anrufe, die jeder fürchtet. Die Anrufe, die einem verkünden, dass etwas Schlimmes passiert ist. Gerade noch war die Welt in Ordnung. Dann hebt man ab. Am anderen Ende – Schluchzen und Weinen. Erst langsam fügen sich die Einzelteile zu einem Bild – und schlimmste Befürchtungen werden wahr: Ein Verwandter steckt in ernsten Schwierigkeiten. So scheint es zumindest. Immer häufiger ist die Nachricht gefälscht. Dann stecken skrupellose Betrüger hinter der Hiobsbotschaft. Martin Emig, Sprecher des Polizeipräsidiums Oberbayern Süd, spricht von „perfiden Anrufen“.
Lügenmärchen
um Verkehrsunfall
„Mama, ich habe einen tödlichen Verkehrsunfall verursacht. Eine Mutter von drei Kindern ist gestorben.“ So etwas erzählt die Stimme am anderen Ende der Leitung. Und die Stimme baut dann Druck auf: „Die Polizei hat mich festgenommen. Ich muss 70000 Euro Kaution bezahlen.“
Den Schrecken solcher Nachrichten nutzen immer mehr Betrüger immer schamloser aus. Sie schocken ältere Menschen – und nehmen sie aus. Zehntausende, manchmal Hunderttausende Euro erbeuten sie. Auch in der Region Rosenheim lassen Betrüger fast täglich ein Telefon klingeln.
Martin Emig nennt die Zahlen: „In Stadt und Landkreis Rosenheim sind bereits weit über 500 Fälle von Callcenterbetrug mit den Phänomenen ,Falsche Polizeibeamte‘ und ,Schockanruf‘ polizeilich bekannt geworden.“
Und die Welle wächst noch. Hauptkommissar Simon Bräutigam, im Bereich des Polizeipräsidiums Oberbayern Süd einer der Fachberater in Sachen Telefonkriminalität, erhielt kürzlich von Kollegen einer Dienststelle Bericht: „Die bekamen innerhalb von zehn Minuten sieben Anrufe gemeldet.“
Wie extrem trickreich und überzeugend die Verbrecher vorgehen, belegt der Fall einer Seniorin aus dem westlichen Landkreis Rosenheim. Sie verlor Bargeld und Wertgegenstände im Wert von etwa 30000 Euro. Nachdem sich ihre angebliche Tochter vollkommen aufgelöst nach einem angeblichen Unfall gemeldet hatte, übernahm ein Krimineller, der sich als Polizist ausgab, das Gespräch und setzte die Frau massiv unter Druck. 70000 Euro Kaution – sonst Gefängnis für die Tochter.
„Durch äußerst geschickte Gesprächsführung“, so schildert es die Polizei, hielten die Kriminellen die Frau über mehrere Stunden in der Leitung, gaben ihr immer neue Anweisungen. Sie wurde in die Rosenheimer Innenstadt gelotst, wo sie einem völlig unbekannten Mann auf offener Straße über 15000 Euro in bar übergab. Schließlich bestellten die Täter die Frau nach München, um ihr noch mehr Geld abzunehmen.
Auf der Heimfahrt Richtung Rosenheim beendeten die Anrufer das Telefonat. Die Tochter sei nun auf freiem Fuß. Erst zu Hause wurde der Seniorin der Schwindel bewusst. Sie erstattete Anzeige bei der Polizeiinspektion Bad Aibling. Wohl zu spät. „Die Hinterleute von Telefonbetrug sitzen im Ausland, etwa in der Türkei oder im Baltikum. Man kommt diesen Tätern kaum auf die Spur“, sagt Hauptkommissar Bräutigam.
Exponiert sind allerdings diejenigen, die als falsche Polizisten oder Gerichtsdiener von den Senioren das Geld für die angeblichen Kautionen übernehmen. „Die erwischen wir manchmal“, sagt Bräutigam. Die Strafe ist hoch – bis zu fünf Jahre Gefängnis –, der Anteil der Beute allerdings auch. Bis zu 20 Prozent des ergaunerten Geldes fließen in die Tasche der Geldboten. Dabei kann es um sehr viel Geld gehen: Angebliche Polizisten, die vorgaben, in einer Betrugssache zu ermitteln, nahmen Mitte März einer Frau aus dem Landkreis Rosenheim 250000 Euro in bar und fünf Goldbarren im Wert von etwa 150000 Euro ab.
Die Masche mit der angeblichen Tochter oder dem Enkel ist Bräutigam gut bekannt. Stets kommen im Laufe des Schockanrufs irgendwelche Vertreter des Gesetzes ins Spiel, seien es Polizeibeamte oder der Staatsanwalt. Im gut eintrainierten Zusammenspiel praktizieren die Kriminellen mit Schock und Furcht eine Taktik, die an militärische Angriffe erinnert. So kommt so mancher Senior nicht mehr dazu, einen klaren Gedanken zu fassen.
Finanzieller und
seelischer Schaden
Der finanzielle Verlust ist das eine, aber auch der seelische Schaden wiegt schwer, sagt Bräutigam. „Die Menschen sind regelrecht traumatisiert“, sie schämten sich zudem, weil sie so naiv gewesen seien. Nicht alle Fälle werden angezeigt, vermutet er: „Die Dunkelziffer ist enorm.“
Am besten hilft offenbar Aufklärung. Es werden zwar immer häufiger Senioren von Betrügern angerufen. Mittlerweile reagieren aber viele potenzielle Opfer richtig und benachrichtigen die echte Polizei. Mitunter rettet die angerufenen Senioren auch die Geistesgegenwart von Verwandten oder der Mitarbeiter ihrer Hausbank. Jedoch: Von 100 Anrufen gelangen zwei an ihr Ziel, schätzt Bräutigam. Und das reicht, um reichlich Beute zu machen: „In richtigen Callcentern können die Hunderte von Telefonaten jeden Tag führen.“