Unterwössen – Die Verletzlichkeit des Menschen und zugleich die Verletzungen, die der Mensch seinesgleichen sowie Tieren und Umwelt beibringt, sind eines der zentralen Themen, mit denen sich der Unterwössener Bildhauer Andreas Kuhnlein in seinen Arbeiten beschäftigt. Ein mutiges Werk, das weit über Person und Ort hinausreicht, wird am heutigen Samstag im Rahmen eines Wortgottesdienstes der Öffentlichkeit vorgestellt: der neue Andachtsraum in der katholischen Pfarrkirche St. Martin in Unterwössen.
Knapp sieben
Quadratmeter
In besonderer Weise sind in dem nur knapp sieben Quadratmeter großen Raum das tatkräftige Engagement und die Unterstützung vieler kreativer Geister gebündelt. Sie sollen Raum schaffen für den heilsamen Umgang mit dem sensiblen Thema Missbrauch. Als Schutz- und Kraftort, meditative Andachtsstätte oder als „Lebensraum Jesu“ bietet er Gelegenheit, sich Gedanken darüber zu machen, auf welche unterschiedliche Weise Menschen durch den Missbrauch von Macht oder sexuelle Gewalt zu Opfern werden können.
Solidarität
und Hoffnung
Zugleich setzt die eindrückliche formale und inhaltliche Gestaltung des Raums ein starkes Zeichen von berührender Mitmenschlichkeit, Solidarität und Hoffnung. Ebenso soll die Stätte als Raum in der Kirche die Organisation der Kirche mit ihren verkrusteten Machtstrukturen an die wahre Botschaft Christi erinnern. Der Andachtsraum thematisiert erstmals auch Missbrauchsfälle, die sich in den 60er-Jahren in Unterwössen zugetragen haben.
Rund sieben Jahre reicht die Realisierung der Andachtsstätte in der Pfarrkirche zurück. Ersten Ideen zufolge sollte diese im Rahmen der Kirchenrenovierung im westlichen Zugangsbereich entstehen. Nach intensiven Gesprächen mit Kuhnlein einigte man sich auf den geschützten Raum unter dem mächtigen Westturm als Alternative. Durch die unter dem Putz freigelegte Wand aus Bruchsteinen wirkt er sehr ursprünglich.
Eine starke Intensivierung und künstlerische Zuspitzung erfuhr die Gestaltung des Andachtsraums im Zusammenhang mit dem Umgang der katholischen Kirche mit den Opfern sexuellen Missbrauchs durch Priester und der zögerlichen Aufarbeitung durch kirchliche Stellen. Wie Andreas Kuhnlein im Gespräch erzählt, war er durch drei Freunde in Unterwössen persönlich mit Missbrauchsfällen, den schrecklichen Folgen für die Betroffenen und dem zum Teil stigmatisierenden Umgang damit im Ort konfrontiert.
Empört über die jahrelang andauernden Vertuschungsversuche der Kirche – auch bei wiederholten Besuchen von Kardinal Joseph Ratzinger im Ort –, machte Kuhnlein nach der Beerdigung eines betroffenen Freundes seiner Wut – auch als gläubiger Christ – Luft: Er schrieb im Oktober 2018 einen geharnischten Brief an Kardinal Reinhard Marx. Dieser vermittelte den Kontakt zu Missbrauchsbeauftragten im erzbischöflichen Ordinariat. In intensiven Gesprächen, später auch ergänzt durch Kontakte zum unabhängigen Betroffenenbeirat der Erzdiözese München-Freising, reifte eine neue Idee. Der Andachtsraum sollte behutsam mit der Missbrauchsthematik verknüpft werden.
„Es gibt erstaunliche Parallelen im Leben und der Passion Jesu“, erläutert Kuhnlein. „Immer wieder geschieht es, dass einer zum Sündenbock gemacht wird und an etwas Schuld haben soll. Und zwar deshalb, weil jemand oder eine Gruppe ihr Ansehen und ihre Macht bedroht sieht und die Wahrheit vertuscht.“ Statt Ausgrenzung und Stigmatisierung gehe es aber darum, sich im Sinne der ursprünglichen Botschaft Christi an die Seite Ausgegrenzter zu stellen. Wichtig sei, für die Wahrheit und gegen Gewalt einzutreten und die Kirche an ihre wahre Berufung zu erinnern, sagt der 69-Jährige.
In zwei szenischen Holzskulpturen der Verurteilung und Kreuzigung Jesu sowie der zentralen Figur der Auferstehung wird das Thema im Andachtsraum anschaulich. Wie erläuternde Kommentare erweitern zwei bläulich schimmernde Glasbilder mit Texten links und rechts die Aussage.
„Die Botschaft des Andachtsraumes reicht weit über Unterwössen hinaus, aber für den Ort ist es wie eine Befreiung“, sagt Bürgermeister Ludwig Entfellner. Es gehe nicht um Skandalisierung oder das Aufwärmen alter Fälle. Vielmehr ermögliche es der sensible Umgang mit dem Thema, den Betroffenen und ihren Familien Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ohne den Ort zu spalten. Nach der Vorstellung im Gemeinderat seien die Reaktionen „sehr positiv“ gewesen, sagt Entfellner.
„Es ist beeindruckend, wie empathisch und kraftvoll sich Andreas Kuhnlein dem Thema Missbrauch widmet“, erklärt Richard Kick, Sprecher des Betroffenenbeirats. Er hebt die Klarheit und „hohe Symbolkraft“ der Umsetzung hervor, „mit der der Künstler nicht nur seinen Freunden, sondern allen Betroffenen eine Stimme gegeben hat“ und viele Widerstände überwunden habe.
Als „absolut unterstützenswert“ bezeichnet auch Lisa Dolatschko-Ajjur, Leiterin der Stabsstelle Prävention von sexuellem Missbrauch in der Erzdiözese München-Freising, die Idee, in Unterwössen einen Raum zu schaffen, „der Andacht und Erinnerungskultur sensibel zusammenbringt“. Dieser zeige, „dass auch in Unterwössen Kinder von einem katholischen Priester sexuell missbraucht wurden“ und sei deshalb „ein sehr wichtiges Mahnmal“.
„Unbedingte
Notwendigkeit“
Aus Sicht von Generalvikar Christoph Klingan vom Erzbistum München bestärke das Kunstwerk die „unbedingte Notwendigkeit, sich dem Thema zu stellen, wie es in Aufarbeitung, Prävention und Intervention geschieht“. Zugleich würden zahlreiche Schritte unternommen, um „im Bereich der gesamten Erzdiözese wirksam gegen Grenzüberschreitungen und Missbrauch vorzugehen“. Für Pfarrer Martin Straßer als Hausherr steht die Andachtskapelle dafür, „das Licht des Angenommenseins und der Liebe in die Menschenherzen zu bringen“.
Erläuternde
Begleitbroschüre
Der Text in einer erläuternden Begleitbroschüre des Andachtsraumes bringt die Botschaft des Andachtsraums auf den Punkt: „Es wird Zeit, dass die Bevollmächtigten der Kirche in ihren Opfern diejenigen erkennen, die ihnen die Wahrheit zeigen. Sie sind die Verwundeten eines Systems, das lebensbedrohlich krank ist – und krank macht.“