Die große Wut im kleinen Julius

von Redaktion

OVB-Aktion Sexuelle Gewalt: Nicht immer sind die Täter männlich

Rosenheim/Mühldorf – Julius (7) ist ein aufgeweckter kleiner Schlaumeier. Nur zu seiner Vergangenheit schweigt er. Dann, auf einmal, sagt er doch etwas: „Das Allerschlimmste war, was ich mit meiner Mama machen musste, wenn ich aus dem Keller raus durfte.“ Für Buben wie ihn wird am Chiemsee die Mattisburg gebaut.

Julius ist eines von rund 15700 Kindern unter 14 Jahren, die 2019 in Deutschland sexuell missbraucht worden sind. Fast 2000 Opfer waren dabei noch nicht einmal sechs Jahre – so wie Julius. Zwei Zahlen, die betroffen machen – und sie sind nur die Spitze des Eisbergs. Die Dunkelziffer hinter der offiziellen Statistik des Bundeskriminalamtes kann man nur schätzen.

Mattisburgen sind Schutzhäuser für Buben und Mädchen zwischen vier und zwölf Jahren, die Unerträgliches erdulden mussten: Gewalt, Misshandlung und Vernachlässigung, oft in einem kaum vorstellbaren Maß. In Hamburg und Halle gibt es je eine Mattisburg, ein weiteres Haus entsteht derzeit bei Gstadt im östlichen Kreis Rosenheim. Für eine bestmögliche Innenausstattung der Zimmer soll die Weihnachtsaktion „OVB-Leser zeigen Herz“ sorgen.

Hinter der Fassade: eine verletzte Seele

Als Julius 2020 mit sieben Jahren in die Hamburger Mattisburg kommt, entpuppt er sich schnell als ebenso neunmalkluges und aufgewecktes wie höfliches und eloquentes Bürschchen. Der sympathische kleine Kerl mit den blonden Haaren ist spitze im Lesen, Rechnen und Schreiben, er versteht schnell. Deshalb langweilt er sich im Unterricht manchmal, wenn die anderen nicht mitkommen.

So könnte Julius ein Musterschüler und ein glücklicher Bub sein. Aber davon ist er weit entfernt. Hinter der Fassade des Charmeurs verbirgt sich eine schwer verwundete Kinderseele – seinen Betreuerinnen und Betreuern in der Mattisburg ist das rasch klar. Die dunklen Schatten der Vergangenheit kommen immer wieder. Dann wird das kleine Rechengenie mit einem Schlag zur großen Furie. Schlagen, kratzen, beißen, zerstören, drohen – bei den kurzen, heftigen Wutanfällen zieht Julius alle Register.

Eine Karriere des Scheiterns

Die Ausraster sind der Grund, warum Julius in der Mattisburg wohnt. Weder in einer Wohngruppe noch in den drei Pflegefamilien hat er in den zwei Jahren zuvor Fuß fassen können. Man könnte auch sagen: Er ist überall rausgeflogen, auch aus zwei Schulen. Der Siebenjährige will heim zur Mama. Doch da spielt das Jugendamt nicht mit, weil im Elternhaus einiges schief gelaufen sein muss.

Auch in der Mattisburg kocht die Wut in Julius immer wieder hoch. Im Einzelgespräch mit Erwachsenen stets umgänglich, reicht im Alltag schon eine Kleinigkeit, und Julius schlägt auf die Schrankwand ein oder aufs Waschbecken. Dabei entwickelt der Dreikäsehoch enorme Kräfte. Gut, dass die Einrichtung in der Mattisburg keine Ecken und Kanten hat, überwiegend aus Hartgummi besteht. Das vermindert das Verletzungsrisiko erheblich.

Ebenso hat Julius depressive Phasen. Dann wirkt er geknickt, abwesend, apathisch. Doch in der Mattisburg ist etwas anders, ganz anders als sonst. Für sein Verhalten wird Julius hier nicht bestraft.

Mutter hat den Buben jahrelang missbraucht

„Wir halten die Kinder so aus, wie sie sind. Denn ihr Verhalten ist das Ergebnis des Erlebten“, sagt seine Betreuerin. Die Zorn- und Panikattacken sind Ausdruck einer tiefen Verzweiflung, einer schlimmen posttraumatischen Belastungsstörung, kurz PTBS, erlitten in frühester Kindheit. Ob und wann er darüber reden möchte, das liegt allein bei Julius; kein quälendes Stochern im Nebel der Vergangenheit, keine lästigen Fragen; stattdessen: Monate voller Zuwendung, Fürsorge und vertrauensbildender Maßnahmen.

An einem Donnerstagmorgen, nach einer Nacht voller Albträume, bricht es dann aus ihm heraus. Die schreckliche Wahrheit: Immer wieder ist der kleine Bub in seinem Elternhaus im Kellerraum eingesperrt gewesen, tagelang, manchmal sogar wochenlang. Und wenn Julius endlich wieder zu seiner Mutter durfte, kam erst das Schlimmste: Sie tat ihm sexuelle Gewalt an, immer wieder, über Jahre hinweg.

Julius’ Geheimnis wird ein Fall für die Justiz

Natürlich bleibt Julius‘ Geheimnis nicht in der Mattisburg. Die Behörden werden eingeschaltet. Der Fall hat ein strafrechtliches Nachspiel, und er zeigt, dass sexuelle Gewalt nicht ausschließlich aufs Konto von Männern, Heranwachsenden und Jugendlichen geht. Missbrauchen, Vernachlässigen, körperlich und seelisch misshandeln: Das können auch Mütter, Tanten oder ältere Stiefschwestern. In zehn bis 25 Prozent der Fälle ist es eine Täterin.

Was wohl aus Julius wird? Das wird sich zeigen. Wunden und Narben werden bleiben, doch zumindest haben ihm die eineinhalb Jahre in der Mattisburg die Chance auf ein weitgehend normales Leben eröffnet. Inzwischen ist er neun Jahre, kommt gut zurecht in einer Erziehungsstelle – so nennt man ein Modell, bei dem Kinder von versierten Fachkräften in einem familiären Umfeld betreut werden.

Mattisburg mit einem einmaligen Konzept

Eine versierte Fachkraft ist auch die Psychologin Cornelia Heß, die ab Sommer 2023 das „Therapeutische Internat Sternstunden Mattisburg Chiemsee“ – so der volle Name – leiten wird; eine deutschlandweit einzigartige Vernetzung von Wohnen, Bildung und Therapie unter einem Dach – wie geschaffen für Buben und Mädchen wie Julius, die Entsetzliches erlebt haben. Heß: „Mit der Mattisburg eröffnen wir den Kindern eine Perspektive zu neuer Freude am Leben, am Zusammensein mit anderen Menschen, neuen Beziehungen und zum Lernen.“

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