Hier ist kein Kind allein

von Redaktion

Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Im Fernsehen läuft Pippi Langstrumpf. Bettina,zehn Jahre, wischt sich eine Träne aus dem Gesicht und fragt: „Warum bin ich in der Mattisburg? Warum können meine Eltern mich nicht zurücknehmen?“

Rosenheim/Mühldorf – Die Lichter, die Düfte, die Klänge, die Rituale – die Dezemberwochen vor Weihnachten sind eine besondere Zeit für die Kinder in der Mattisburg. Schmerz und Vorfreude treffen im schummrigen Kerzenlicht so wuchtig aufeinander wie sonst zu keiner Jahreszeit: beim Plätzchenbacken, beim Wunschzettelschreiben, beim Kinderpunschschlürfen.

Und auch beim Fernsehen. „Pippi und das Weihnachtsfest“ ist der Programmwunsch von Bettina. Die Folge hat sie früher mal bei einer Freundin gesehen. Wie immer findet sie Pippi Langstrumpf zum Lachen und zum Weinen zugleich.

Bei Bettina geht es schnell rauf und runter auf der Gefühlsleiter – so wie es daheim drunter und drüber ging, wenn ihr Vater explodiert ist und erbarmungslos eingeschlagen hat auf Frau und Kind.

Körperliche Gewalt ist das eine. Hinzu kommen die Hiebe auf die Seele: Drohen, Beleidigen, Einschüchtern, Ablehnen, Abwerten, Entwerten, Instrumentalisieren und so fort – in Sachen psychische Gewalt zog auch die völlig überforderte Mutter alle Register. Bettina muss sich vorgekommen sein wie im falschen Film.

Mit Pippi endlich
im richtigen Film

Bei Pippi Langstrumpf ist sie im richtigen Film. Zumindest bis Tante Prüsselius die Pippi so kurz vor Weihnachten mal wieder ins Kinderheim stecken will – damit sie nicht so allein ist. Pippi möchte aber Herrn Nilsson nicht allein lassen, möchte viel lieber mit Tommi und Annika backen und Schlittenfahren: „Weihnachten sollen alle Kinder glücklich sein!“

So bleibt Pippis das Heim erspart – immerhin, Bettina ist erleichtert. Dennoch wird der Heiligabend zu einer traurigen Angelegenheit. Pippi verbringt ihn allein. Die vielen Geschenke, die sie liebevoll für die anderen Kinder verpackt hat, hängen im Limonadenbaum. Niemand holt sie ab.

Pippi öffnet das Fenster, schaut in den Himmel: „Frohe Weihnachten, Mama! Was hast Du gesagt? Ob ich heute Abend hier einsam bin? Nö, gar nicht.“ Leise, so leise, dass es die Mama im Himmel nicht hören kann, ergänzt Pippi im Selbstgespräch: „Ich will doch nicht, dass sie sich Sorgen um mich macht.“

Das ist der Moment, der Bettina sichtlich zusetzt. Und das ist der Moment für die speziell geschulten Fachkräfte in der Mattisburg. Nun sind Behutsamkeit, Präsenz und Einfühlungsvermögen gefragt. „Wir müssen Kindern wie Bettina zuhören, dürfen die Kinder psychisch kranker Eltern nicht alleine lassen“, sagt Cornelia Heß. „Und wir müssen das Tabu verstehen: Schuld, Scham und Angst sind dominierende Gefühle im Seelenleben unserer Mattisburg-Kinder. Häufig wünschen sie sich, bei ihren Eltern zu sein – auch nach schwerster Gewalt.“

Schutz und einen Platz im Leben finden

Cornelia Heß, Psychologin, wird das „Therapeutische Internat Sternstunden Mattisburg Chiemsee“ leiten. Die Stiftung „Ein Platz für Kinder“ will das Haus Mitte 2023 eröffnen. 22 schwerst traumatisierte Kinder finden dort Schutz und Zuspruch – und später hoffentlich auch ihren Platz im Leben. Die Weihnachtsaktion „OVB-Leser zeigen Herz“ soll für eine bestmögliche Ausstattung der Mattisburg-Zimmer sorgen.

Noch ist die Mattisburg in Mitterndorf bei Gstadt eine Großbaustelle. Aber man kann sich schon ausmalen, wie gemütlich und vorweihnachtlich es dort in einem Jahr sein wird: wenn der Nikolaus kommt; wenn gesungen, gebacken und gebastelt wird; der Christbaum geschmückt und ein Geschenk nach dem anderen ausgepackt wird.

Die vielen Rituale sind Balsam für verwundete Kinderseelen, – aber keine Pflicht. Weil schon eine Nebensächlichkeit – ein Duft, ein Lied, eine 08/15-Floskel, reichen kann, um ein Kind traurig, ängstlich oder wütend zu machen. Die Fachkräfte haben ein Auge darauf, lassen sich im Fall des Falles rasch etwas einfallen.

Leere Versprechen
statt Geschenke

Sie wissen auch, dass die Eltern ihre Versprechen häufig nicht halten: nicht anrufen, nicht auftauchen, die Geschenke nicht verschicken – was ihre Kinder wieder nur enttäuschen und destabilisieren würde. Deshalb gestalten die Mattisburg-Verantwortlichen für Angehörige, Kinder und Betreuer eine Extra-Vorweihnachtsfeier – mit Lagerfeuer, Stockbrot, gemeinsam gesungenen Liedern.

Die Feier wird minutiös geplant. Manche Eltern dürfen ihren Kindern Geschenke im geschützten Rahmen persönlich überreichen, andere nicht. Kinder ohne Besuch erhalten ein Packerl von den Betreuern: „Das hat das Christkind bei mir für Dich abgegeben.“

Zum Wohl der Kinder werden die Väter und Mütter gebeten, auf einen Kontakt an den Feiertagen zu verzichten. Häufig ist der Kontakt ohnehin schon ausgesetzt wegen der Gewalttaten. Heß: „Weihnachten feiern wir im geschützten Rahmen – ohne Eltern und Verwandte, ohne Trigger, Verletzungen und Erinnerungen.“ Kinderwünsche zu erfüllen, sei das größte Geschenk für die Fachkräfte.

Und Bettina? Ob sie auch eine Trompete kriegt, so wie Pippi beim Happy-End in der Weihnachtsfolge, als ihre Freunde doch noch kommen und ihre Geschenke vom Baum holen?

Egal, Hauptsache, kein Kind ist allein – nicht in der Villa Kunterbunt und erst recht nicht in der Mattisburg.

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