Riedering – Niemand darf aufgrund einer Behinderung benachteiligt werden. Das steht im Grundgesetz. Doch wie sieht die Realität aus? Zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung sprechen Betroffene über Barrierefreiheit in Riedering.
Tock, tock, tock – mit seinem Blindenstock klopft Emanuel Goldstein in regelmäßigem Takt an die Bordsteinkante, um sich zu orientieren. Seit seiner Geburt kann der 45-Jährige nichts sehen. Er will die Blindenampel in Riedering vorführen. Den Weg hat ihm ein Mobilitätstrainer vom Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund beigebracht – wie eine Karte im Kopf.
Über die
Tinninger Straße
Goldstein will die Tinninger Straße überqueren, an der es weder Ampel noch Zebrastreifen gibt. Er muss sich auf sein Gehör verlassen und lauscht, ob ein Auto kommt. Als alles still ist, kreuzt er die Straße. Er geht vorbei an der Grundschule, dem Hausmeisterservice und Sozialwerk. An der Ampel greift er unter den gelben Kasten und drückt den Taster. Goldstein wartet auf das Vibrieren und den schnellen Piepton. Autos und Lastwagen rasen vorbei. Goldstein kneift die Augen zusammen und sagt: „Der Verkehr hier ist gefährlich.“ Ein lautes Piepen durchdringt den Lärm.
Vor rund 20 Jahren, als Goldstein für seine Arbeit nach Riedering zog, hat es diese Ampel nicht gegeben. Er hat sich an die Gemeinde gewandt, und die hat eine Blindenampel errichtet. Das war noch vor Christoph Vodermaiers Amtszeit als Bürgermeister. Dennoch erklärt er, weshalb solche Hilfsmittel wichtig sind: „Wir wollen den Weg nicht schwerer machen, als er ist.“ Auch an der Tinninger Straße wird Goldsteins Weg bald einfacher sein. Dem Bürgermeister zufolge wird dort eine Verkehrsinsel errichtet. Nicht nur für Menschen mit Behinderung sei das gut, auch für Schüler und Senioren. Doch eine Ampel und eine Verkehrsinsel allein bringen keine Barrierefreiheit. Auf die Frage, wie barrierefrei Riedering ist, sagt die Behindertenbeauftragte Anna Siflinger: „Eigentlich gar nicht.“ Das Dorf bestehe aus einer Hügellandschaft, im Rollstuhl seien Wege schwierig zu bewältigen. Siflinger muss es wissen, sie nutzt selbst einen Rollstuhl als Hilfsmittel. „Auf dem Land ist das nicht so einfach“, sagt sie.
Siflinger wohnt in der Nähe der Bushaltestelle. Als sie einmal beim Busunternehmen nachgefragt habe, ob sie mitfahren könnte, sei die Antwort „nein“ gewesen. Der Fahrer habe keine Zeit, ihr in den Bus zu helfen, das führe zu Abweichungen vom Fahrplan. Mittlerweile hat Siflinger einen Führerschein und ist nicht mehr auf den Bus angewiesen.
Doch sie denkt auch an ältere Menschen mit Rollatoren. Die Behindertenbeauftragte will Riedering zu mehr Barrierefreiheit verhelfen. „Trotz des Amts tut sich nicht viel“, bedauert sie. Es sei nur ein Ehrenamt und die Gemeinde beziehe sie nicht wirklich ein. Und wenn, dann dauere der Prozess recht lang – etwa bei der Dorferneuerung. Bei der zudem nur ein Teil der Gemeinde verbessert werde.
Der Bürgermeister sieht das anders. Er sei in einem guten Austausch mit den beiden Behindertenbeauftragten. Wegen der Corona-Pandemie habe es jedoch nur einen Präsenztermin gegeben. Auch in Bezug auf die Dorferneuerung bemühe sich die Gemeinde und habe den Gehwegausbau berücksichtigt. Für ein Pflaster, das nicht nur schön, sondern auch barrierefrei ist, habe die Gemeinde „mehr Geld in die Hand genommen“.
Behindertenbeauftragter Oskar Schmidt bestätigt das. Er lebt seit 1973 in Riedering. „Seit dieser Zeit hat sich schon allerhand getan“, sagt Schmidt. Die Bürgersteige seien abgesenkt worden, viele Geschäfte, die Kirche und der Friedhof seien barrierefrei und gut mit dem Rollator oder Rollstuhl zu erreichen. An dem Zugang zu Veranstaltungen hapert es laut Schmidt noch: „Die Mehrzweckhalle ist nicht erreichbar für Menschen im Rollstuhl.“ Dabei findet Schmidt, dass das gesellschaftliche Leben oder Theaterauftritte für alle zugänglich sein sollte. „Es ist sehr wichtig, dass niemand ausgeschlossen wird“, sagt er.
Dem Bürgermeister zufolge sei für die Mehrzweckhalle bereits ein Lift geplant gewesen. Im Rathaus sei es aufgrund des alten Gebäudes nicht möglich, einen Aufzug in die oberen Geschosse einzubauen. Zum Vergleich: Im Wasserburger Rathaus aus den 1450er-Jahren gibt es einen Lift.
In der Verwaltung
fehlt ein Lift
„Alle Leistungen für Bürger können wir im Erdgeschoss abwickeln“, sagt Vodermaier. Nur Mitarbeiter mit Beeinträchtigung könne die Gemeinde aufgrund des fehlenden Lifts nicht einstellen. Der Sitzungssaal des Gemeinderats sei jedoch für alle zugänglich.
Der Behindertenbeauftragte Schmidt bedauert jedoch, dass die Welt wohl nie völlig barrierefrei sein wird, auch wenn daran gearbeitet werde.