Von wegen Barrierefreiheit

von Redaktion

Bei Betroffenen sitzt der Frust tief – Infrastruktur ist nur spärlich ausgebaut

Rosenheim/Eggstätt – Barrierefreiheit bis 2023: Das war das Ziel Horst Seehofers im Jahr 2013. Seitdem ist zwar viel geschehen, aber noch immer stoßen Rollstuhlfahrer im Nahverkehr auf große Schwierigkeiten. Betroffene aus der Region berichten aus ihrem Alltag im ÖPNV.

„Wir überlegen, Menschen auf den Mars zu schicken, aber ich komme nicht von Prien nach Rosenheim.” Der Frust über die angebliche Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr der Region sitzt merklich tief bei Josef Höck, dem Behindertenbeauftragten der Gemeinde Eggstätt. Er ist selbst Rollstuhlfahrer und leidet wie viele andere auch an der nur spärlich ausgebauten Infrastruktur.

Fahrten zum Arzt
nur mit Hilfe

„Zurzeit ist es so, dass Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen, die Bus fahren wollen, das nicht alleine können. Die brauchen immer Hilfe. Und ich bin jetzt ziemlich fit im Rollstuhl und kann nicht alleine von A nach B fahren, weil der ÖPNV das einfach nicht hergibt.“ Schon Fahrten zu seinem Arzt in Prien gingen nicht ohne fremde Hilfe. Um mit dem Bus fahren zu können, müssten diese auch für Rollstuhlfahrer ohne Aufwand zugänglich sein. Sogenannte Niederflurbusse senken sich an den Haltestellen so weit ab, damit der Rollstuhlfahrer problemlos einsteigen kann. Diese Busse fahren aber nur auf ausgewählten Strecken. „Es mangelt am Drumherum“, wie Höck sagt. „Die Gehsteige sind nicht hoch genug, und beim Zug ist es eine Katastrophe.”

Hier scheitert es oft an der Infrastruktur der Bahnhöfe. Behinderte Menschen können die Gleise nicht wechseln, weil die Aufzüge teils sehr lange defekt sind, bis sie repariert werden. So erst kürzlich am Bahnhof in Raubling. Nun geht der Aufzug wieder, aber erst nachdem er mehr als ein ganzes Jahr stillstand.

Michael Schmid, Behindertenbeauftragter aus Großkarolinenfeld und seit 42 Jahren ebenfalls Rollstuhlfahrer, findet: „Wenn ich von Rosenheim nach München fahre, kann ich als Rollstuhlfahrer erst in Grafing wieder aussteigen. In Großkaro könnte ich zwar raus, aber ich komme nicht auf die andere Seite der Gleise. Da gibt es keinen Aufzug. Die Bahn sagt, hier steigen soundso viele Menschen ein, das lohnt sich nicht. Teilweise kann ich das nachvollziehen. Aber wir leben in 2022.”

In der anderen Richtung nach Salzburg sieht es nicht viel besser aus. „Wenn ich in Richtung Salzburg fahre, kann ich von Rosenheim bis Traunstein nicht aussteigen. Das ist sogar eine Zumutung für Fußgänger”, sagt Schmid weiter. Dabei gehe es nicht nur um die Rollstuhlfahrer. Auch ältere Menschen, die mit einem Rollator unterwegs seien, stießen auf die gleichen Probleme. Im November 2013 verkündete der damalige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer das Ziel, den Nahverkehr binnen zehn Jahren barrierefrei zu machen. Diese zehn Jahre sind fast abgelaufen.

„Barrierefreiheit sollte 2022 kein Thema mehr sein,” sagt Josef Höck. „Ich als Rollstuhlfahrer kann nicht von Prien nach Rosenheim fahren. Geht nicht! Weil diese Infrastruktur nicht stimmt, weil sich da keiner was dabei denkt, weil das alles so teuer ist.”

Um in Sachen Barrierefreiheit in der Region etwas voranzubringen, setzt sich seit 20 Jahren die Projektgruppe „Barrierefreies Bauen” unter der Leitung von Architektin und Rosenheimer Stadträtin Christine Degenhart (Freie Wähler) ein. Auf der jüngsten Veranstaltung der Projektgruppe mit dem Titel „ÖPNV inklusiv” kamen Bürger, Betroffene und Entscheidungsträger zusammen, um grundsätzliche Fragen zu besprechen. Wie beispielsweise das Ziel, dass alle Haltestellen mit Rampen zum Einstieg in die Busse ausgestattet werden. Aber Haltestellen gibt es im Landkreis laut dem Sprecher der Bürgermeisterkonferenz im Landkreis Rosenheim, Bernd Fessler (parteilos) aus Großkarolinenfeld, einfach zu viele. Alle Haltestellen umzubauen, sei eine zu große finanzielle und organisatorische Herausforderung. Die meisten Gemeinden würden in Sachen barrierefreier Ausbau meist erst dann tätig, wenn sie in der Nähe ohnehin mit Bauarbeiten beschäftigt seien.

„Wir bleiben dran und fordern weiter einen lückenlosen Ausbau für einen barrierefreien Nahverkehr“, sagt Christine Degenhart gegenüber dem OVB. Sie habe nach der Veranstaltung das Gefühl, dass auch bei den Politikern nach der Veranstaltung mehr Verständnis für die Sache geweckt worden sei. Sie sehe zwar die Bemühungen, es gebe aber noch einiges zu tun. „Beförderungsangebote wie ROSI sind tolle Ansätze. Nun gilt es, diese Angebote aus den Kinderschuhen herauszuheben und mehr barrierefreie Fahrzeuge einzusetzen“, fordert Degenhart. Landrat Otto Lederer und Rosenheims Oberbürgermeister Andreas März (beide CSU) versicherten, dass der barrierefreie Nahverkehr für Stadt und Landkreis sehr ernst genommen und für diesen auch viel Geld investiert werde.

3,9 Millionen
Euro eingeplant

Auf Nachfragen des OVB bestätigt die Stadt Rosenheim, dass für das kommende Haushaltjahr 3,9 Millionen Euro für den Ausbau des Nahverkehrs eingeplant sind. Von diesem Budget könnten unter anderem auch Niederflurbusse angeschafft werden. Die genaue Summe wird auf der Haushaltssitzung am 16. Dezember beschlossen.

Michael Schmid versteht dabei durchaus, dass Rampen für die Busse nicht überall realistisch sind. Aber es gehe insgesamt um die Teilhabe aller an der Gesellschaft. „Das muss in die Köpfe der Menschen. Ich bin kein Bittsteller, sondern Teilhaber!”

An schnelle, flächendeckende Verbesserungen glaubt Josef Höck nicht. „Ich bin jetzt 60. Das werde ich wohl nicht mehr erleben.” 

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