Mia entdeckt das Glückshormon

von Redaktion

Warum tiergestützte Therapie für die Mattisburg-Kinder so wichtig ist

Rosenheim/Mühldorf – „Die Tiere fragen nichts, ich verstehe sie“, sagt Mia (7 Jahre). Behutsam fährt sie dabei ihrem Liebling durch die Mähne: Luna, die erfahrene Therapiestute, kommt mit jedem Kind klar und verströmt eine stoische Gelassenheit. Beim Streicheln schüttet Mia jetzt jede Menge Oxytozin aus. Wie das gut tut nach dem Horror daheim! Zuvor hatten Angst und Gewalt jahrelang nichts als Stresshormone durch ihren Körper gepumpt.

Oxytozin wird gern als Kuschel- oder Bindungshormon bezeichnet. Es macht Mattisburg-Kinder wie Mia nicht nur für einen Moment glücklich, es ist wie Balsam auf verwundete Seelen und kann einen gewaltigen therapeutischen Effekt haben.

Mattisburgen sind Schutzhäuser für Buben und Mädchen, die sexuellen Missbrauch, Gewalt und Vernachlässigung erfahren haben. Eine weitere Mattisburg wird derzeit in Mitterndorf bei Gstadt am Chiemsee gebaut – das erste Haus, das als therapeutisches Internat auch über eine Schule verfügt.

Dort haben Mädchen wie Mia die Chance, wieder zu sich selbst zu finden, Bindungsstörungen zu überwinden, die Wut auf diese Welt zu vergessen. Die Weihnachtsaktion „OVB-Leser zeigen Herz“ soll für eine bestmögliche Ausstattung der Zimmer in dem Haus sorgen, das 22 Kindern in vier Wohngruppen einen Neuanfang ermöglicht.

Mia ist schon in frühester Kindheit durch ein Martyrium gegangen. Die Mutter: alkoholkrank, laut, aggressiv, hysterisch und unberechenbar, im Rausch ein Pulverfass, eine permanente Gefahr für das Kind. Der Vater: abgetaucht und verschwunden, nicht auffindbar selbst für die Behörden.

Sexueller Missbrauch steht im Raum

In der Grundschule merkten ihre Lehrer bald, dass in Mias Zuhause etwas nicht stimmte. Heute weiß man, dass das Mädchen schwere körperliche Gewalt und Vernachlässigung erfahren hat. Unklar blieb lange, ob Mia auch sexuell missbraucht wurde. Unter den ständig wechselnden Partnern der Mutter waren jedenfalls einige Männer, denen kaum jemand ein Kleinkind anvertrauen würde. Erst in der Mattisburg ist Mia an einem sicheren Ort. Erst jetzt kommt Struktur in ihr Leben: Verständnis, regelmäßige Versorgung, gute Pflege, fester Tagesrhythmus, Rituale, medizinische Untersuchungen, intensive pädagogische und therapeutische Angebote.

Das wirkt. In der tiergestützten Therapie fasst das Mädchen sofort Vertrauen. Rasch nimmt Mia Kontakt zu den Tieren auf, sie öffnet sich, geht aus sich raus, lacht, putzt, striegelt, holt Wasser und füttert Hasen, Meerschweinchen, Hühner und Hunde – respektvoll, behutsam und fürsorglich.

Geduldig, ruhig und sanft berührt und hält sie die Tiere, die mit ihrer Körperhaltung spontan ihre Zuneigung ausdrücken. Auch im Umgang mit schwereren Kalibern wie Pferden, Lamas oder Eseln wirkt Mia sicher.

Ihre Impulsdurchbrüche haben in der Schule so manchen Lehrer oder Mitschüler verschreckt, Pferde macht Mia aber nicht scheu. Schon gar nicht Luna, die Schimmeldame ist nicht nur weiß wie der Mond, nach dem sie benannt wurde, sie ist auch ebenso beruhigend, spirituell, kraftvoll: eine halbe Tonne Gemütsruhe und Ausgeglichenheit auf vier Hufen zum Anfassen. Dank Luna spürt Mia, die sich schon so oft entwertet hat, ein typisches Verhaltensmuster nach Gewalterfahrungen, ein Gefühl von Selbstwirksamkeit: „Ich kann das!“

Trauma trennt vom Körper ab

Ein Trauma trennt Menschen von ihrem Körper ab. Dass Tiere bei Menschen Schwellenängste abbauen und ihnen im Prozess von Traumabefreiung, Selbstfindung und Entspannungssuche helfen können, ist wissenschaftlich längst belegt. Der Trauma- und Stressforscher Peter A. Levine beschreibt es so: „Tiere sind vollkommen natürlich, geerdet und instinktgeleitet. Selbst ein Pudel, der in der Stadt aufwächst, behält seine Instinkte bei. Mitunter bekommt man schon ein Gefühl von Geerdetsein, wenn man einem Tier einfach nur zuschaut und bemerkt, wie vollkommen rhythmisch und in seinem Körper anwesend es ist.“

Eine Mattisburg auf dem Land – wie in Mitterndorf – ist wie geschaffen dafür, auf die heilenden Kräfte von Natur und Tieren zu setzen. „In den therapeutischen Behandlungen regen wir die Kinder an, die Tiere achtsam anzufassen und sich auf deren Lebensrhythmus einzulassen“, so Cornelia Heß, die das „Therapeutische Internat Sternstunden Mattisburg Chiemsee“ – so der volle Name – leiten wird. „Das Streicheln und Liebkosen der Tiere schüttet in unserem Körper das prosozial wirkende Oxytozin aus. Wir entspannen, es wirkt beruhigend, angstlösend, Stress vermindernd.“ Das Schönste dabei, und das weiß Heß aus 25-jähriger Erfahrung in der stationären Jugendhilfe: Die Kinder haben eben nicht das Gefühl, dass sie in der Therapie sind. Sie suchen den Kontakt zu Tieren freiwillig, dosieren die Nähe selbst. So entstehen wunderbare Momente der Begegnung. Manchmal reicht hierfür auch ein Wald, eine Wiese oder das Chiemsee-Ufer. Johanna Ruoff, Gründerin der Stiftung „Ein Platz für Kinder“, der Trägerin der Mattisburg: „Ein Spaziergang in der Natur bewirkt häufig Wunder. In der Stille, an der frischen Luft oder wenn die Vögel zwitschern, da tauen auch Kinder auf, die sonst sehr introvertiert sind.“ Dann reden sie auf einmal – über das, was ist; und über das, was war. Bei Mia war es, tatsächlich, sexuelle Gewalt. Eines Tages bricht es aus ihr heraus, ohne dass sie jemand dazu gedrängt hat, einfach so. Schließlich halten es ihre Pädagogen und Betreuer in der Mattisburg so wie Luna: Sie fragen das Mädchen nichts. Sie verstehen es.

Sie wollen spenden?
Überweisungsträger
für die OVB-Aktion

Liegen heute bei

„Blümchen“ geht es blendend

Therapie-Eselin „Blümchen“ ist der heimliche Star auf dem Irmengard-Hof in Mitterndorf. Das obige Bild von 2012 hat ihr eine bundesweite Karriere verschafft: in Zeitungen, Broschüren, Magazinen, Flyern. Lebt sie noch? „Ja, es geht ihr blendend, am 1. Januar wird sie 15 Jahre alt“, verrät Agnes Niederthanner vom Sozialpädagogischen Fachteam auf dem Irmengard-Hof, einer Ferieneinrichtung der Björn-Schulz-Stiftung für schwer kranke Kinder. Nebenan wird jetzt die Mattisburg gebaut. Das Bild zeigt natürlich kein traumatisiertes Mattisburg-Kind, im Text wurden die biografischen Daten von Mia zu ihrem eigenen Schutz geringfügig verändert.

Artikel 1 von 11