Lucia – das Weihnachtswunder

von Redaktion

Geschichte von einem Mädchen, das mit 340 Gramm zur Welt kam

Rosenheim/Mühldorf – Wann ist klein zu klein? Wann ist früh zu früh? Lucia kam 2020 zur Welt, acht Tage vor Weihnachten, mit 340 Gramm Geburtsgewicht. Das ist kein Druckfehler. 340 Gramm, etwas mehr als nichts. Und heute: ein großartiges Wesen und bezauberndes Mädchen. Ein schöneres Weihnachtsmärchen kann es nicht geben.

Lucia heißt „Die Leuchtende“. Einen passenderen Namen hätten sich die Eltern – Stephan und Elisabeth Wagner, 32 und 31 Jahre, aus Oberndorf bei Ebersberg – nicht ausdenken können. Wo sie auch hinkommt, bringt Lucia die Menschen zum Strahlen.

„Unsere außergewöhnliche Patientin“, wird sie von Ärzten und Schwestern im Rosenheimer Perinatalzentrum liebevoll genannt. Dort hatte vor zwei Jahren kaum jemand zu hoffen gewagt, dass aus Lucia ein Glückskind der besonderen Art werden würde: noch etwas kleiner als andere; noch etwas hinterher beim Sprechen, Essen, Laufen; aber drauf und dran, sich zu einem glücklichen, gesunden Mädchen zu entwickeln.

„Die Geschichte von Lucia ist auch für hartgesottene Neonatologen eine schier unglaubliche, wie müssen es dann erst die Eltern empfunden haben! Es darf nicht verhehlt werden, dass wir an manchen Tagen schon sehr großen Optimismus brauchten, um auf ein solches Happy End zu hoffen“, verrät Dr. Wolfgang John, Leiter der Neonatologie im Rosenheimer Perinatalzentrum des Romed-Klinikums.

Notoperation an
Heiligabend

Heute vor zwei Jahren stand es besonders schlecht um Lucia: Notoperation an Heiligabend, wegen einer gestörten Darmfunktion. So ist der 24. Dezember ein besonders emotionaler Tag für die Eltern. „Die Ärzte befürchteten, dass Lucia den Eingriff nicht übersteht“, erinnert sich die Mama.

Ein halbes Jahr – von Dezember 2020 bis Juni 2021 – hat Elisabeth Wagner im Schwesternwohnheim verbracht, einen Steinwurf von der Klinik entfernt. Eine Bleibe, die besser als nichts ist, keine Frage – aber alles andere als ideal für junge Eltern, deren Stresspegel und Adrenalinspiegel ständig auf Ausnahmezustand programmiert sind. Deshalb halten die Wagners das aktuelle Eltern-Frühchen-Projekt der Perinatalstation, das von der OVB-Weihnachtsaktion unterstützt wird, für eine „großartige Sache“.

Aber zurück zu Lucia, deren Geschichte nicht wie ein Märchen anfängt, sondern wie ein Albtraum. Nach zunächst unauffälligem Verlauf mehren sich Ende 2020 die Hinweise auf eine „Schwangerschaftsvergiftung“ (Präeklampsie) und zunehmend schlechtere Versorgung des Feten. Es bleibt nur der Kaiserschnitt: 16. Dezember, 25. Schwangerschaftswoche. Eigentlicher Geburtstermin wäre der 28. März 2021 gewesen.

Als Lucia auf der Geburtswaage liegt, stockt den Ärzten der Atem: 340 Gramm, ein beklemmender Wert, an der Grenze der Lebensfähigkeit, streng genommen sogar etwas darunter. 340 Gramm, die nicht nur ethische Fragen aufwerfen, sondern schon rein technisch eine maximale Herausforderung bereits bei der Erstversorgung im Kreißsaal sind: Alle Geräte und Instrumente, die man hierzu benötigt, sind für solche Gewichtsklassen nicht konstruiert, von den Beatmungsschläuchen über die Beatmungsmasken bis zu den Infusionsnadeln.

Wegen der extremen Unreife des Frühchens muss sofort nach der Geburt reanimiert werden – mit erfreulich raschem Erfolg. So kann Lucia nach erster Stabilisierung und mit künstlicher Beatmung auf die Frühgeborenen-Intensivstation verlegt werden.

Der weitere Verlauf könnte kaum komplikationsreicher sein: Unreifebedingte Einschränkungen in allen Organsystemen, wiederholte akute Infektionen und vor allem die gestörte Darmfunktion sorgen laufend für Rückschläge. Diese führen an Heiligabend erstmals zu einer akut lebensbedrohlichen Situation, die Kinderchirurgen können sie durch eine Not-OP abwenden.

„Intraoperativ zeigten sich dabei mehrere Einrisse in der pergamentartig zarten Darmwand, die selbst während der OP durch geringste Berührungen immer wieder spontan entstanden“, erinnert sich Dr. John. Zum Zeitpunkt dieses operativen Eingriffes wiegt die kleine Patientin gerade etwas mehr als 300 Gramm. Ein künstlicher Darmausgang wird angelegt „und Lucia erholt sich tatsächlich, obwohl wir als Behandlungsteam zu diesem Zeitpunkt schon in allergrößter Sorge gewesen sind“.

Schockstarre bei
jedem Telefonanruf

Zwei Wochen danach die nächste Krise: Verwachsungen im Bauchraum provozieren einen Darmverschluss. Lucia muss erneut eine Notfall-Bauch-OP über sich ergehen lassen: Die Verwachsungen werden gelöst, ein zweiter künstlicher Ausgang wird gelegt.

Aber Lucias Lebenslicht leuchtet. Wenn sich ihre Eltern – sie Erzieherin, er Elektrotechniker und Projektleiter – heute daran erinnern, kommt alles wieder hoch: die Ängste, die Tränen, die Verzweiflung, die Erschöpfung, die Schockstarre bei jedem Vibrieren des Handys. Doch ebenso die Hoffnung, die sie nie aufgaben, und der Stolz auf die Kleine, auf ihren Kampfgeist, ihren Lebenswillen.

Die Bauchkomplikationen erschweren die so sehr herbeigesehnte Gewichtszunahme des Babys zwar erheblich, doch Lucia macht stetig Fortschritte. Im Frühjahr ist ihr Zustand so stabil, dass – die dritte Bauchoperation – beide künstlichen Darmausgänge am 31. März 2021 zurückverlegt werden können. Lucia erlangt die normale Anatomie des Darmes wieder, jetzt geht es auch rauf mit dem Gewicht.

Dann der 16. Juni 2021: Tag der Entlassung in „sehr zufriedenstellendem Allgemeinzustand“, wie es in den Papieren heißt und mit einem stolzen Gewicht von 3945 Gramm. Allerdings bestehen noch Probleme im Trinkverhalten, auch die Regeneration der Lunge ist noch nicht abgeschlossen, was weiter eine Ernährung per Magensonde und eine häusliche Sauerstoffgabe erfordert.

Mittlerweile ist auch das Vergangenheit. Wenn Lucia durch den Schnee krabbelt oder auf ihrem Holzkletterbogen mit Rutsche herumkraxelt, den sie zum zweiten Geburtstag geschenkt bekommen hat, dann holt sie sich ihre Luft ganz allein, ohne jede Unterstützung. Seit Sommer braucht sie keine Magensonde mehr: Das mit der Mundmotorik, dem Kauen und Schlucken, klappt immer besser. Gulasch, Knödel, Käsespätzle, Kartoffeln, Butter- oder Streichwurstbrot – das sind Lucias Lieblingskraftmacher, deftige Kost also, aber sie hat ja einiges aufzuholen, bringt jetzt acht Kilo auf die Waage.

Auch mit dem Sprechen und Laufen schaut es gut aus, nur dass das Mädchen beim Entfalten seines kognitiven Potenzials halt später dran ist. „Der Zustand von Lucia gibt zur größten Freude Anlass“, jubeln die Ärzte.

Einsame spitze ist die Kleine im Krabbeln. Beim Aufrichten, Hinstellen und Festhalten – an der Couch, an der Wand, an den Beinen von Papa – sitzt ebenfalls jeder Griff. Jetzt fehlt nur noch, dass sie loslässt und losgeht, vielleicht klappt es ja an Heiligabend mit den ersten Schritten.

Sicher würde sie damit wieder vieles zum Leuchten und Strahlen bringen – den Christbaum sowieso, vor allem aber all die glücklichen Menschen um sie herum. „Unser kleines Weihnachtswunder – und unser Sonnenschein“, sagt die Mama.

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