Rosenheim – Dr. Nikolaus Klecker war kürzlich auf einem Hausbesuch. Bei der Gelegenheit, so bat man ihn, möge der Hausarzt doch bitte gleich mal nach dem Kind sehen. „Und das hatte dann Scharlach“, erzählt der Mediziner und Bezirksvorsitzende des Bayerischen Hausärzteverbands.
Scharlach sollte man ernst nehmen, es kann schwere Verläufe nach sich ziehen, die Kinderkrankheit ist dank Penicillin aber nicht schwer zu behandeln. Eigentlich, heißt das. Zur Zeit ist vieles schwierig, was sonst ganz einfach ist. „Denn wir kommen einfach nur noch schwer an Antibiotika“, sagt Klecker.
Nicht nur Penicillin
fehlt in der Region
Auch anderswo sieht der Rosenheimer Arzt einen heftigen Mangel an Medikamenten. Und er fragt sich, wer sich um das deutsche Gesundheitswesen kümmert. „Die Politik schläft“, sagt Klecker. Ein Nickerchen, das der Rosenheimer am liebsten unsanft beenden würde.
Er denkt laut nach, und zwar über einen offenen Brief. Ein Schreiben an die Adresse von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Am besten mit so vielen Unterschriften wie der vorangegangene, ein von Klecker mitangestoßener offener Brief: der Aufruf zur Corona-Schutzimpfung, den am Ende über 500 Kolleginnen und Kollegen aus der Region unterzeichneten.
„Also, ich würd auf jeden Fall unterschreiben“, sagt Otto Laub. Er ist Kinderarzt und Vorsitzender des Praxisarzt-Verbundes Paednetz Bayern. Er kann Klecker nur recht geben: Es fehle hinten und vorne an Arzneimitteln. Und auch über die Gründe sind sich beide einig: Vor allem das Rabattsystem sorgt für Engpässe. Die Krankenkassen freuen sich dank der Nachlässe, die sie den Pharmaherstellern abtrotzen können, über milliardenschwere Einsparungen. Und argumentieren, dass sie so die Beiträge weniger stark anheben müssen.
Doch so wird für viele Firmen die Produktion für Deutschland unrentabel. Apotheken müssten das „Billigste vom Billigen“ nehmen, sagt Klecker. „Und so fällt Deutschland hinten runter.“ Ein Beispiel: Das Holzkirchener Pharmaunternehmen Hexal stellte die Produktion von Paracetamolsaft ein, der Kindern bei Fieber verabreicht werden kann. Man habe auch deswegen aufgehört, weil der „Vertrieb wirtschaftlich nicht mehr darstellbar ist“, teilte Hexal mit.
Das Problem
ist hausgemacht
Im Ausland wird mehr gezahlt, mitunter das Mehrfache dessen, was die deutschen Kassen anbieten. Das führt dazu, dass „querbeet“ alles Mögliche knapp geworden ist, wie Dr. Josef Stein aus Rosenheim feststellt. „Antibiotika, Beruhigungsmittel, Opiate, Schmerzmittel – ständig fehlt irgendetwas.“ Unterschreiben? Würde auch er, sagt Stein.
Auch Florian Nagele von der Mangfall-Apotheke in Kolbermoor sieht dringenden Bedarf zum Nachjustieren. Klar seien die Lieferketten nicht mehr das, was sie vor dem Ukraine-Krieg gewesen seien. Insgesamt sei Europa weiterhin stark abhängig von Wirkstoffproduzenten wie China und Indien. Aber in Deutschland sei der Mangel auch hausgemacht. „Es muss sich lohnen für die Unternehmen“, sagt der Sprecher der Region Rosenheim bei der Bayerischen Landesapothekerkammer. „Und sie benötigen eine Zusage, dass es sich möglichst schnell lohnt.“ Dann wären die Engpässe bald ausgestanden. Grundsätzlich seien die Sachen ja verfügbar, sagt Nagele, „nur eben nicht in Deutschland“.
Auch Dr. Fritz Ihler würde einen offenen Brief bereitwillig unterschreiben. „Alles, was auf den Missstand hinweist, wäre willkommen“, sagt der Vorsitzende des Ärztlichen Kreisverbandes Rosenheim. „So etwas haben wir noch nie gehabt. Es ist wirklich traurig.“
Dabei ist die Lage noch nicht existenzbedrohend, da sind sich Ärzte und Apotheker einig. Doch gleich, ob eine Mitarbeiterin täglich eine Stunde und mehr herumtelefoniert, um herauszufinden, wo es bestimmte Medikamente gerade gibt, oder ob jemand in der Praxis Schmerztabletten im Mörser zerbröselt, um daraus Kinder-Schmerzsaft zu gewinnen: Die Situation nervt.
„Ich frage mich,
wo wir leben“
„Ich frag mich wirklich langsam, wo wir leben“, sagt Nikolaus Klecker. Und Otto Laub gibt zu bedenken, ob sich der Sparkurs der Krankenkasse am Ende nicht als teuer herausstellt. „Ein in der Praxis durch Zermörsern hergestelltes Schmerzmedikament ist fünf- bis zehnmal so teuer wie ein industriell hergestelltes Präparat“, sagt er.