Rosenheim – „Das System befindet sich nicht bloß in einer Krise. Es bricht gerade zusammen.“ Mit diesen harten Worten beschrieb Caritas-Kreisgeschäftsführer Erwin Lehmann den Zustand unserer Soziallandschaft. Er ist in diesem Jahr der Sprecher der freien Wohlfahrtsträger in Stadt und Landkreis Rosenheim: Arbeiterwohlfahrt, Bayerisches Rotes Kreuz, Caritas, Diakonie und Paritätischer Wohlfahrtsverband.
„Es brennt
lichterloh“
Die Verbände berichten alljährlich in einer Pressekonferenz über ihre Arbeitsschwerpunkte sowie die damit verbundenen Herausforderungen, und das Bild, das sie heuer zeichneten, war düster. Egal, auf welches Themenfeld man schaut, ob Kinderbetreuung, Seniorenpflege oder Betreuung von Asylbewerbern, Zuwanderern und Geflüchteten – es brennt überall lichterloh.
Der Hauptgrund dafür ist stets ein und derselbe: Personalmangel. Die Folgen sind einander ähnlich und immer gravierender. Kindertagesstätten etwa müssten da und dort bereits Gruppen schließen – nicht selten von jetzt auf gleich. Für die Eltern, die davon kalt erwischt werden, komme das einer Katastrophe gleich, meinte Erwin Lehmann. Und wie immer beträfen Negativentwicklungen am stärksten diejenigen, die am schwächsten sind: Alleinerziehende, Familien mit geringem Haushaltseinkommen, Eltern eines Kindes, das in irgendeiner Form beeinträchtigt ist.
Nicht besser sehe es bei der Seniorenpflege aus. Schon jetzt sei es nicht leicht, eine ambulante Pflege oder einen Heimplatz zu finden, in den nächsten zehn Jahren aber werde der entsprechende Bedarf im Landkreis noch einmal um knapp 40 Prozent steigen, so Erwin Lehmann. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Pflegefachkräfte werde aber gleichzeitig weiter abnehmen. In der Betreuung der Migranten zeige sich das gleiche Bild. Eine Fachkraft komme derzeit auf 300 dieser Menschen. Ein Verhältnis, bei dem keine echte Aufbau- oder Integrationsarbeit möglich sei. „Man kann da bestenfalls noch Feuerwehr spielen“, sagte Lehmann.
Ein zusätzliches Problem sei das des fehlenden Wohnraumes. Der soziale Wohnungsbau sei allgemein rückläufig, der Zuzug in den Kreis Rosenheim steige aber stetig. Der Wohnraummangel habe deshalb bereits die sogenannte Mittelschicht erreicht. Richtig prekär sei aber auch hier wieder die Situation für alle, die finanziell etwas schlechter gestellt sind – gerade zu dieser Gruppe gehörten viele Leistungsträger unserer Gesellschaft.
Diese düstere Schilderung der Gesamtsituation war aber kein Selbstzweck. Die Wohlfahrtsverbände wollten sie als eindringlichen Weckruf verstanden wissen. Als Weckruf für einen grundlegenden Umbau unserer Soziallandschaft: „Mit den bisherigen Ansätzen werden wir die Probleme keinesfalls mehr in den Griff kriegen können“, betonte Lehmann. Die gesetzliche Grundlage für die Kindertagesstätten etwa, das BaykiBig (Bayerisches Gesetz zur Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in Kindergärten) sei überholt, aus der Zeit gefallen. Es dürfe auch nicht länger sein, dass pädagogischen Fachkräften wie etwa einem Absolventen des Studiengangs Pädagogik oder einer ausgebildeten Musikpädagogin keine adäquate Beschäftigung in Kindergärten erlaubt sei. Ähnliches gelte für die Seniorenpflege. Auch hier müssten die Einstiegsbedingungen in den Beruf flexibler sein.
Der Umbau müsse aber noch tiefer gehen, so die Meinung der Wohlfahrtsverbände. Es werde für die Zukunft nicht mehr möglich sein, das Sozialsystem nur nach dem Motto „Gibt es ein Problem, gibt es auch Geld“ zu strukturieren. Prävention sei ein entscheidendes Schlüsselwort, also handeln, noch bevor das Problem sich entwickeln konnte.
Erwin Lehmann berichtete von der Seniorenbegegnungsstätte im eigenen Haus: Hier könnten ältere Menschen aktiv bleiben und sich zusätzlich ein eigenes kleines Netzwerk aus Kontakten schaffen. Wie wichtig solche Aktivität im Alter sei, hätten die negativen Folgen der coronabedingten Stillstandsphasen überaus deutlich gezeigt.
Wille zur Veränderung
notwendig
Die Politik habe die Notwendigkeit für einen solchen Umbau mittlerweile erkannt, so die Ansicht der Wohlfahrtsverbände. Die Verwirklichung setze aber auch voraus, dass in der gesamten Gesellschaft ein entsprechendes Problembewusstsein, vor allem aber der Wille zur Veränderung vorhanden sei. Das längerfristige Ergebnis, so die gemeinsame Hoffnung der Wohlfahrtsverbände, wäre im Idealfall eine neue Bürgergesellschaft, in der der Einzelne sich und seinen Status nicht mehr allein darüber identifiziert, was er sich leisten kann. Sondern auch über das Engagement, das er bereit ist, für die Gesellschaft aufzubringen.