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„Wir sehen uns nach dem Sieg“

von Redaktion

Bomben, Butscha, Banksy: Zusammen mit Uwe Gottwald, einem humanitären Helfer aus Rosenheim, hat OVB-Reporter Sascha Ludwig drei Tage in der Ukraine verbracht. Ludwig: „Was wir erlebt haben, ist oft nur schwer in Worte zu fassen.“

Rosenheim/Kiew – Seit über 30 Jahren zieht es Uwe Gottwald schon nach Osten. 30 Jahre in denen der 61-Jährige aus Krottenmühl am Simssee viele ehemalige Länder der Sowjetunion besucht hat. Besonders angetan hat es dem Lehrer an der Landwirtschaftsschule die Ukraine – und das nicht nur wegen ihrer fruchtbaren Böden.

„Bereits in den 1990er-Jahren haben wir die Entwicklung der Ukraine miterlebt – sowohl wirtschaftlich, als auch politisch“, berichtet Uwe Gottwald. Schon zu diesem Zeitpunkt knüpfte er enge Kontakte und unterstützte über humanitäte Hilfe die Schwächsten der Gesellschaft. Anfangs noch mit umfangreiche Hilfslieferungen, Lkw-Ladungen mit Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs. „Einer unserer Partner vor Ort hat uns dann auf ein anderes Projekt aufmerksam gemacht, die Suppenküchen“, so der 61-Jährige weiter. Mittlerweile betreibt Uwe Gottwald mit seinen Helfern von JVV Ludwigsstadt, der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Rosenheim und Personal vor Ort sieben solcher Suppenküchen – überall in der ganzen Ukraine für über 250 Bedürftige.

Mit dem Nachtzug
nach Kiew

Seit Februar 2022 herrscht offen Krieg in der Ukraine. Die Situation – insbesondere für die ohnehin schon Bedürftigen – hat sich weiter verschärft. Zusammen mit Uwe Gottwald und Gregor Tischer aus Ludwigsstadt mache ich mich im März auf den Weg. Das Ziel: „Ich will unseren Partnern zeigen, dass wir auch jetzt immer für sie da sind. Sie sollen wissen, dass wir sie nicht alleine lassen“, so der 61-jährige Rosenheimer.

Von München geht es für uns mit dem Flugzeug zunächst nach Krakau. Flüge direkt in die Ukraine sind derzeit angesichts der Lage im Land nicht möglich. Von der südpolnischen Großstadt fahren wir mit dem Zug weiter in den Grenz-Ort Przemyl. Dort heißt es umsteigen in den Nachtzug nach Kiew. Nach knapp einem Tag in der Luft und auf der Schiene sind wir am Ziel. Als wir am Bahnhof der ukrainischen Hauptstadt unseren Zug verlassen, ist alles seltsam ruhig.

Viele Reisende halten sich in den Unterführungen zwischen den Gleisen auf. Wie wir später erfahren, wurde kurz vor unserer Ankunft Luftalarm ausgelöst. „Das passiert hier mehrmals pro Woche, manchmal auch zweimal am Tag“, erzählt uns Julia, die uns als Übersetzerin begleitet. Wir steigen in einen Minibus und fahren ins Zentrum von Kiew – erster Halt ist der Mikhailovskaya Platz.

Die dort abgestellten, zerstörten Panzer aus russischer Fertigung wirken auf Anhieb sehr befremdlich. Zu Friedenszeiten pulsiert hier das Leben – nun sehen wir nur vereinzelt Passanten über den riesigen Platz hasten. Etwas abseits der Panzer-Wracks sind Fotografien aus den Kriegsgebieten zu sehen.

Schockierende
Ähnlichkeit

Aufnahmen des letzten Jahres und direkt daneben Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Ähnlichkeit der Inhalte schockiert. Ein paar Meter weiter, entlang einer Mauer zum angrenzenden Michaelskloster, finden sich unzählige Kerzen, Kränze und Bilder. Bilder von Menschen, die seit 2014 im Krieg mit Russland ihr Leben gelassen haben.

Auf der Fahrt zu unserer nächsten Station kommen wir ins Gespräch. Nikita, unser Führer für den heutigen Tag, berichtet uns vom Kriegs-Alltag in Kiew. Von den Luftalarmen und dass in solchen Fällen viele Geschäfte den Betrieb einstellten. Auf Russland angesprochen verfinstert sich seine Mine, seine Worte werden harscher. Ob sich die Ukraine und Russland jemals wieder annähern könnten, will ich wissen.

Die Antwort des jungen Mannes, der eigentlich Wirtschaftsinformatiker ist, fällt sehr deutlich aus: „Das ganze Gerede vom Brudervolk ist absoluter Bullshit. Was ist daran bitte brüderlich, wenn die uns überfallen und vernichten wollen? Aufgeben kommt für uns nicht in Frage!“ An eine friedliche Lösung sei nicht zu denken, darüber seien sich alle Ukrainer einig.

Am Kontraktova Platz, direkt neben der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie, erreichen wir dann unser nächstes Ziel. In einem kleinen, modern eingerichteten Restaurant namens „Pashtet“ erwartet uns Valentina, die Chefin der Kiewer Suppenküche. Sie erklärt uns, wie mit der Hilfe aus Rosenheim den Bedürftigen geholfen wird: „Wir hatten Glück und sind mit den Eigentümern des Restaurants ins Gespräch gekommen. Die Betreiberin der alten Suppenküche ist im Zuge des Krieges nach Europa geflohen“, berichtet die engagierte Ukrainerin. „Fünfmal pro Woche können die Leute nun hier ins Restaurant für eine Mahlzeit kommen. Die Betreiber kochen einfach für uns mit, das funktioniert toll“, ergänzt Valentina. Dass die Suppenküche mehr ist als nur eine Anlaufstelle für warmes Essen, weiß auch Uwe Gottwald: „Suppenküche ist Essen. Suppenküche ist aber auch ein ganz anderer, wesentlicher Teil und den hab ich selber auch erst später realisiert; Gemeinschaft.“ So stellt das tägliche Treffen für die Bedürftigen eben auch ein Stückchen Beständigkeit in ansonsten unbeständigen Kriegs-Zeiten dar. „Ein Stückchen Normalität in einer Zeit, die alles andere als normal ist“, weiß auch Valentina. Schlicht überwältigt hat Uwe Gottwald, Gregor Tischer und mich dann aber die Dankbarkeit der Besucher der Suppenküche. Eine Dankbarkeit, die nicht nur in den Augen der Menschen erkennbar ist. So hatten unsere Gastgeber zahlreiche Geschenke parat. Aufmerksamkeiten, die sich die Ärmste der ukrainischen Gesellschaft mühevoll vom Mund abgespart hatten.

Zerstörung
und Hoffnung

Nach dem Mittagessen in der Suppenküche führt unser Weg hinaus aus der Stadt. Mit unserem Minibus geht es in Richtung Nordwest – Irpin, Butscha und Borodjanka. Das Ausmaß der Vernichtung macht fassungslos. Zerstörte Wohnblöcke, hunderte Autowracks, von Bomben und Raketen getroffene Häuser. Bilder, die nur erahnen lassen, wie viele Menschenleben hier sinnlos ein Ende nahmen.

Doch selbst inmitten all dieser Zerstörung findet die Ukraine Hoffnung. So haben die Aufbauarbeiten vielerorts bereits begonnen. Und auch die Moral der Bevölkerung im Kampf gegen den russischen Angreifer ist nach wie vor hoch. In Borodjanka sind dafür zwei Graffiti des britischen Streetart-Künstlers Banksy mitverantwortlich. Eines zeigt eine Tänzerin in mitten eines von einer Rakete zerstörten Wohnhauses. Das andere einen kleinen Jungen, der einen erwachsenen Judo-Kämpfer zu Boden ringt. Ein Sinnbild für den Kampf der Ukraine gegen einen vermeintlich übermächtigen Feind – David gegen Goliath.

Wir verlassen die Gebiete, die zu Kriegsbeginn Anfang 2022 im Fokus der russischen Angriffe standen und fahren weiter in Richtung Westen, nach Schytomyr. Dort verbringen wir die Nacht bei einem Freund und Partner von Uwe Gottwald. Arkadiy betreibt dort das „House of Bread“ und weitere Suppenküchen, die mit der Hilfe aus Deutschland und anderen europäischen Ländern Bedürftige versorgen. Am Morgen warten bereits zwei Besucher auf uns: Victor, der Vorsitzende des Stadtrats von Schytomyr, und seine Kollegin Olga, die in der 250000 Einwohner-Stadt für soziale Fragen zuständig ist, frühstücken mit uns. Beide berichten von den ersten Tagen des Krieges: „Es wurden rund 600 Objekte zerstört, darunter Schulen, Krankenhäuser und auch der Bahnhof. Viele Menschen sind umgehend geflohen, in Richtung Polen und Europa, und haben alles zurückgelassen“, berichtet Victor. Der Rest, der sich zur Verteidigung der Stadt gemeldet hatte, wurde mit Kalaschnikow-Gewehren ausgestattet. Die Stadt wurde mithilfe von Checkpoints abgeriegelt. Der Militärflughafen der Garnisonsstadt wurde zuerst angegriffen. „Ein Flugzeug, dass gerade getankt wurde, wurde getroffen; sechs Menschen wurden sofort getötet“, ergänzt Victor.

Große
Dankbarkeit

„Wir haben nicht damit gerechnet, dass uns völlig Fremde helfen. Sie haben gefragt, was sie tun können und es dann auch gemacht“, ergänzt Olga in Hinblick auf die Hilfe, die schnell aus der ganzen Welt zugesagt wurde. Aktuell erreichen die Stadt mehrere Tonnen Hilfslieferungen pro Woche. Güter, die insbesondere für Flüchtlinge verwendet werden, so Olga, denn: In den vergangenen Wochen habe sich Schytomyr zu einem Anlaufpunkt für Ukrainer aus dem Osten entwickelt. „Wir erleben den Krieg jeden Tag. Sie versuchen, die Ukraine komplett zu vernichten, alles was mit unserem Volk zu tun hat.“ Zur Verabschiedung hören wir immer wieder die Worte „Wir sehen uns nach dem Sieg“. Ein anderes Ende des Krieges kommt für die Ukrainer schlicht nicht in Frage.

Infoabend zur Ukraine-Hilfe

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