Traunstein/Kiefersfelden – Den schleichenden Gifttod eines 89-jährigen Mannes aus Kiefersfelden untersucht derzeit das Schwurgericht Traunstein mit Vorsitzendem Richter Volker Ziegler. Wegen versuchten Mordes sitzt Inge S., die 64-jährige Tochter des Verstorbenen, auf der Anklagebank. Sie soll dem Vater selbst oder indirekt über Pflegerinnen über längere Zeit starke verschreibungspflichtige Medikamente verabreicht haben, die aber nicht von Ärzten verordnet worden waren.
Die gleichzeitige Einnahme hoher Dosen war äußerst gefährlich, wie am Montag aus Gutachten deutlich wurde. Der alte Herr mit vier Kindern aus erster Ehe, darunter die Angeklagte, war lange Zeit rüstig. Nach dem Tod seiner zweiten Ehefrau im April 2020 blieb er allein zurück in seinem Haus. Hauptsächlich kümmerte sich danach die 64-Jährige als älteste Tochter um ihn. Altersgemäß und durch zwei Stürze verschlechterte sich der Allgemeinzustand des Mannes.
Gegen den
Rat der Klinik
Ab Sommer 2021 waren Pflegekräfte im Einsatz. Die Medikamente vorzubereiten, behielt sich jedoch immer die 64-Jährige vor. Wie sie in der Hauptverhandlung beteuerte, war ausgemacht, dass sie in der Pflege nach einem Jahr von ihrer Schwester abgelöst werden sollte. Ende Oktober 2021 wurde der 89-Jährige ob seiner schlechten Verfassung in das Romed-Klinikum Rosenheim eingeliefert. Dort stellten Mediziner eine Intoxikation mit Schmerz- und Beruhigungsmitteln in teils lebensgefährlichen Konzentrationen fest.
Die Klinik informierte die Kripo. Gegen den ausdrücklichen Rat der Ärzte holte die Familie den Vater wieder nach Hause. Abends war der 89-Jährige apathisch und nicht mehr ansprechbar. Sanitäter und Polizei sorgten für den Rücktransport nach Rosenheim. Der alte Mann verstarb schließlich am 16. November 2021, gut zwei Wochen nach seiner erneuten Einlieferung in das Krankenhaus.
Gegen alle Geschwister liefen Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft an. Die Verfahren gegen die Schwester und die beiden Brüder der Angeklagten wurden dann eingestellt, nachdem sich alle Verdachtsmomente auf die 64-Jährige konzentrierten.
Inge S. soll aus den Mordmotiven Heimtücke und Habgier heraus gehandelt haben. Der Vater hatte ihr gemäß Staatsanwalt Wolfgang Fiedler sämtliche Bankvollmachten erteilt. Im Herbst 2020 befanden sich rund 700000 Euro auf seinen diversen Konten. Mit Überweisung von 20000 Euro an jedes Kind im Januar 2021 war der 89-Jährige einverstanden. Ohne sein Wissen soll die 64-jährige Bankkauffrau im Mai 2021 an sich und ihre drei Geschwister nochmals je 92875,33 Euro transferiert haben – als Vorgriff auf das Erbe.
Etwa im Oktober 2021 soll der 89-Jährige diese Beträge zurückgefordert haben. Vor Gericht behauptete die Angeklagte, das stimme nicht. Sie habe sich überhaupt nichts zu Schulden kommen lassen. Woher die nicht verschriebenen Medikamente rührten – dazu wisse sie nichts. Sie deutete an, Pflegerinnen könnten dahinter stecken.
Senior hatte für sein
Alter gesunde Organe
Drei Gutachterinnen vom Rechtsmedizinischen Institut an der Universität München informierten das Schwurgericht über Einzelheiten zum Zustand des 89-Jährigen in seinen letzten Lebenstagen in der Klinik, über das Ergebnis der Obduktion unmittelbar nach seinem Tod sowie über die toxikologischen Untersuchungen.
„Für sein Alter hatte der Mann gesunde Organe. Wir konnten nach der Obduktion keine Todesursache benennen“, betonte Professorin Dr. Bettina Zinka. Professorin Dr. Gisela Skopp erläuterte die Befunde von Haaranalysen. Die Haarproben zeigten demnach eine Aufnahme der Wirkstoffe Morphin, Oxycodon, Diazepam, Melperon und Diphenhydramin. Diazepam führt den Expertinnen zufolge zu Bewusstseinsschwäche mit erhöhter Sturzgefahr und sollte älteren Menschen nur in Ausnahmefällen gegeben werden. Andere der Substanzen hätten Blutdruckabfall, Benommenheit und Müdigkeit zur Folge.
Diazepam und anderes seien dem 89-Jährigen in den letzten ein bis fünf Monaten vor der Probenentnahme im Krankenhaus Anfang November 2021 verabreicht worden, einige Substanzen davon in den letzten Wochen in wesentlich höheren Dosen.
Die Befunde sprächen teils für dauerhafte Aufnahme in den letzten Monaten, teils für sporadische Gaben – mal im geringeren Bereich, mal in überdurchschnittlichen Mengen mit fast täglicher Aufnahme hoher therapeutischer Dosen.
Die forensische Toxikologin Dr. Gabriele Roider war befasst mit Urin- und Blutproben noch zu Lebzeiten des Mannes und mit Untersuchungen von Asservaten nach der Obduktion. Sie stellte die nachgewiesenen Wirkstoffe mit den jeweiligen Stoffwechselprodukten dar. Klar sei: „Der 89-Jährige hat zeitnah zu seinem Tod eine Vielzahl von Medikamenten aufgenommen.“ Die gleichzeitige Anwendung von zentral dämpfenden Wirkstoffen könne die Einzelwirkungen potenzieren. Außerdem hatte die forensische Toxikologin sichergestellte Tabletten und teils noch befüllte Medikamentenboxen überprüft.
Nicht kalkulierbare
Folgen der Einnahme
Professor Dr. Bettina Zinka fasste zusammen, dass für diese Medikamente keine Indikation vorgelegen habe. Niemand habe sie verordnet. Die zeitgleiche Einnahme sei kontraproduktiv und hochgefährlich gewesen und könne zu – auch für Ärzte – nicht kalkulierbaren Folgen führen. Der 89-Jährige hätte jederzeit sterben können, auch wenn die Vergiftung nicht als Todesursache bezeichnet werden könne. Das Ganze sei eine „lebensgefährliche Behandlung“ gewesen. Der Prozess geht am 27. März mit dem psychiatrischen Gutachten von Dr. Susanne Lausch aus Straubing weiter. Möglicherweise werden dann auch die Plädoyers gehalten. Das Urteil könnte dann am 30. März folgen. Die Verteidiger Harald Baumgärtl aus Rosenheim und Benedikt Stehle aus München verzichteten wie der Staatsanwalt auf weitere Zeugen und Beweisanträge.