Mutter beruft sich auf Wunsch ihres Sohnes

von Redaktion

Es ist ein komplizierter Fall: 2016 hat ein Rosenheimer Paar seinen behinderten Sohn sterilisieren lassen. Es beruft sich auf den Willen des damals 24-Jährigen. Dieser ist „intelligenzvermindert“ – konnte er die Konsequenz verstehen? Ein Prozess soll Klärung bringen.

Rosenheim/München – Haben Eltern aus dem Landkreis Rosenheim ihren behinderten Sohn gegen seinen Willen sterilisieren lassen? Neben den Eltern muss sich auch der Mediziner am Landgericht München I verantworten, der den Eingriff vorgenommen hat – wegen schwerer Körperverletzung. In seinem Fall könnte eine Vorentscheidung fallen.

Er operierte, und danach waren zwei junge Männer – darunter einer aus dem Landkreis Rosenheim – ihrer Zeugungsfähigkeit beraubt. Doch was hat sich ein 53-jähriger Arzt aus Grünwald damit zuschulden kommen lassen: schwere Körperverletzung in ein, zwei oder gar keinen Fällen?

Da könnten am heutigen Mittwoch bereits Weichen gestellt werden: Als Zeugin geladen ist für diesen zweiten Verhandlungstag vor dem Landgericht München I die Mutter eines der beiden Patienten; ihre Strafanzeige hatte den Fall überhaupt erst ins Rollen und damit auch die Eltern aus dem Landkreis Rosenheim vor Gericht gebracht.

Vorfälle trugen
sich bereits 2016 zu

Die Vorfälle, deren Hintergrund juristisch geklärt werden soll, liegen lange zurück. Im Februar 2016 soll ein Ehepaar aus dem Landkreis Rosenheim beschlossen haben, seinen damals 24-jährigen behinderten Sohn sterilisieren zu lassen. Deswegen müssen sich die beiden seit vergangenem Montag vor dem Landgericht München I verantworten – wegen Anstiftung zu schwerer Körperverletzung. Mutter und Vater hatten den heute 53-jährigen mitangeklagten Chirurgen aus Grünwald kontaktiert.

Der Mediziner sterilisierte nach dem Wunsch der Eltern den behinderten jungen Mann. Und im selben Jahr machte er auch noch einen damals 17-Jährigen unfruchtbar. Wie das abgelaufen ist, darüber sind Anklage und Verteidiger verschiedener Meinung. Der Staatsanwalt wirft dem Arzt schwere Körperverletzung in zwei tatmehrheitlichen Fällen vor, geht also von Wissen und Willen aus. Der Chirurg aber macht im Falle des 17-Jährigen einen Kunstfehler geltend. Da scheidet sich der Weg zunächst zwischen schwerem Vergehen und Fahrlässigkeit.

Noch ist aber gar nicht klar, inwiefern der Fall überhaupt verhandelt wird. Der Arzt sagte am Montag nur zu seinen persönlichen Umständen aus, nicht aber zur Sache. Er will den jungen Mann nach dem – aus seiner Sicht missglückten – Eingriff über den Kunstfehler informiert haben. Damit dürfte die Mitteilung – Stichwort Beweisverwertungsverbot – über den Fehler im laufenden Strafprozess womöglich nicht verwendet werden. Zivilrechtlich haben sich der heute 25-jährige Patient und der Arzt ohnehin auf einen Vergleich mit einem Schmerzensgeld von 60000 Euro geeinigt.

Sohn sagt nicht
vor Gericht aus

Die Mutter des jungen Mannes jedoch hatte, von ihrem Sohn über das Eingeständnis des Arztes informiert, Strafanzeige erstattet. Im Zuge der Ermittlungen war auch die Sterilisation des damals 24-jährigen geistig behinderten Mannes aus dem Landkreis Rosenheim ans Licht gekommen. Er wird übrigens in der Sache gegen seine Eltern nicht als Zeuge aussagen. Nicht nur wegen des Zeugnisverweigerungsrechts. Sondern auch wegen seiner Behinderung.

Eine Befragung zumal vor Gericht könnte ihn nach Auskunft von Rechtsanwältin Christina Dissmann – sie verteidigt die angeklagte Mutter – extrem stressen.

Ein aufsehenerregender Prozess. Wohl auch wegen der Erinnerungen, die gerade im Falle des heute 31-jährigen Mannes aus dem Landkreis Rosenheim mitschwingen. Zur „Reinhaltung des gesunden Volkskörpers“ hatten die Nationalsozialisten schon 1933 die Zwangssterilisation von „erbkranken“ Menschen verfügt und damit früh den Weg zu Ausgrenzung und Vernichtung geebnet. Zu den Lehren, die der Gesetzgeber aus diesen Verbrechen zog, gehört, dass die Rechte behinderter Menschen inzwischen gesetzlich stark verankert sind.

Haben sich die Eltern aus dem Landkreis Rosenheim über gesetzliche Hürden leichtfertig hinweggesetzt? Der junge Mann, dessen Zeugungsfähigkeit unwiderruflich ausgeschaltet wurde, ist von Geburt an intelligenzgemindert. Er soll, so sagen die Eltern, wiederholt und seit Längerem geäußert haben, bloß keine Familie gründen zu wollen. Die Fähigkeit zur Einsicht, was eine Sterilisation bedeute, habe er trotz seiner Behinderung, betont Rechtsanwältin Dissmann.

Die Angelegenheit nahm im Februar 2016 Fahrt auf, als der 24-jährige Sohn über Schmerzen in der Leistengegend klagte. Seinen angeblichen Wunsch, keine Familie gründen zu wollen, hatten die Eltern – beide als Betreuer des jungen Mannes eingesetzt – nicht vergessen. Die Mutter wandte sich daher an ein Betreuungsgericht.

Ein Richter soll sie informiert haben, auch über die hohen gesetzlichen Hürden. Unter anderem soll der Richter betont haben, dass ein Gutachten über die Fähigkeit des Sohnes zur Einwilligung vorliegen müsse. Das habe die Frau aber abgelehnt – in bester Meinung über die Urteilsfähigkeit des jungen Mannes. Ihr Sohn habe seinen Wunsch ganz eigenständig formulieren können, beteuerte die Mutter, sie habe den Eindruck gehabt, es seien sich alle einig gewesen. Heute wird der Prozess fortgesetzt.

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