Rosenheim/München – Der Fall hat’s in sich, so sehr, dass auch Richter und Anwälte von einer höchst komplizierten Angelegenheit sprechen. Ein Arzt (53) aus Grünwald soll vor sieben Jahren zwei Männer – einer 17 Jahre, der andere 24 Jahre alt, aus dem Landkreis Rosenheim und geistig behindert – gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht haben. Deswegen steht der Chirurg vor dem Landgericht München I. Ihm droht wegen schwerer Körperverletzung in zwei Fällen eine Haftstrafe. Angeklagt sind auch die Eltern des damals 24-Jährigen aus dem Landkreis Rosenheim, die den Arzt angestiftet haben sollen. Am zweiten Verhandlungstag aber gab es gleich zwei überraschende Wendungen.
Der Arzt räumt Missgriff ein
Am Mittwoch, 14. Juni, äußerte sich der Arzt erstmals zur Sache. Er führte in aller Ausführlichkeit aus, warum er einem 17-Jährigen den Samenleiter durchtrennte, obwohl der Jugendliche nur wegen eines beidseitigen Leistenbruchs gekommen war. Der Inhalt der Aussage zusammengefasst: Es war ein Missgriff. Weil er die beiden Patienten verwechselt haben will, habe er den 17-Jährigen versehentlich unfruchtbar gemacht, sagte der Arzt. Den 24-Jährigen aus dem Landkreis Rosenheim sterilisierte er auch, auf Wunsch seiner Eltern.
„Ich rede über die mit Abstand schwerste Situation“, begann er, um dann stockend die Geschichte seines Irrtums zu erzählen. Beide Patienten seien betreut worden, im Umgang mit den zwei jungen Männern sei „höchstes Fingerspitzengefühl“ nötig gewesen. Und beide seien wegen eines beidseitigen Leistenbruchs zu operieren gewesen. Eine außerordentlich komplizierte Verkettung. Seine Verwechslung der Mütter nach einem Telefonat gab den letzten Ausschlag. Der Arzt sprach von „absurden Parallelitäten“, die das Verhängnis in Gang gebracht hätten.
War das Eingeständnis des Chirurgen schon überraschend, so übertraf ihn die Mutter des irrtümlich operierten jüngeren Mannes mit ihrer Aussage noch. Was sie sagte, stellt nicht so sehr die Aussage des Arztes, sondern vielmehr die Behauptung ihres vermeintlich zeugungsunfähigen Sohnes infrage. „Er hat ein Kind“, sagte sie über die Lebensverhältnisse ihres Sohnes. Um gleich einzuschränken: „Aber er weiß nicht, wer der Vater ist.“
„Etwa zwei Jahre“ sei das Kind alt, sagte die Mutter. Gezeugt wurde es also lange nach dem Eingriff. Dennoch ist es nicht ausgeschlossen, dass der heute 24-Jährige trotz der Vasektomie der Vater ist.
Der Chirurg beteuerte, dass er sich nach seinem Irrtum sofort um eine erneute Operation bemüht habe, um die Vasektomie rückgängig zu machen. In München habe damals ein Urologen-Kongress getagt, es seien die besten Spezialisten am Ort gewesen. Einer von ihnen nahm die Refertilisierung vor. Ob der heute 24-Jährige tatsächlich zeugungsfähig ist, könnte sich am nächsten Verhandlungstag zeigen: Die Lebensgefährtin des Mannes soll vorgeladen werden. Um darüber Auskunft zu geben, wer das Kind gezeugt hat. Ein Vaterschaftstest wäre eine andere Möglichkeit. Doch dazu kann der Mann nicht gezwungen werden.
Reichlich kompliziert ist auch die Frage nach der Rolle der Eltern aus dem Landkreis Rosenheim. Neben dem Chirurgen sind auch sie angeklagt. Weil sie den Mediziner mit der Operation an ihrem Sohn beauftragten, verantworten sie sich gegen der Vorwurf Anstiftung zur schweren Körperverletzung. Sie waren vom Amtsgericht Rosenheim als Betreuer ihres Sohnes eingesetzt worden. War er fähig zu einer Einwilligung? Wurden die strengen gesetzlichen Vorgaben vor einer Sterilisation eingehalten? Über das erste war keine Klarheit zu gewinnen. Der zuletzt mit der Betreuungsfrage befasste Richter sprach nach seinen Worten nur zweimal und kurz mit dem kognitiv eingeschränkten Mann, der mittlerweile 31 Jahre alt ist. Seine Mutter habe geäußert, dass er kaum anatomisches Verständnis habe. „Er hatte keinen Widerwillen gegen die Betreuung, und es schien auch angebracht“, stellte er nach einem Gespräch von etwa einer Minute fest. „Das genügte, um sicher zu sein, dass er einen Betreuer brauchte.“
Zuständiger Richter erinnert sich nicht
Laut der Mutter hatte der Sohn selbst gewünscht, unfruchtbar zu sein. Doch haben seine Eltern die Vorgaben eingehalten? Am verfahrensrechtlich korrekten Weg zu einer so einschneidenden Operation darf man zweifeln. Allerdings auch an der Unterrichtung der Eltern durch das Betreuungsgericht.
Der 2016 zuständige Richter sagte aus, „eigentlich keine Erinnerung mehr“ an den Fall zu haben.
Als die Mutter des geistig eingeschränkten Mannes bei ihm „hereingeschneit“ sei, sei er mit der Rechtslage nicht vertraut gewesen. Er hat sich dann wohl informiert, immerhin ist ein späteres Schreiben von ihm aktenkundig. Mit dem Hinweis, dass Gutachten und eine Entscheidung des Betreuungsgerichts notwendig seien. Aber da stand der Entschluss der Eltern wohl schon fest. Vermerkt ist die Antwort der Mutter: „Nein, vielen Dank für Ihre Mühe.“ Die Verhandlung wird am 27. Juni fortgesetzt.