Eltern und Arzt müssen nicht in Haft

von Redaktion

Im Sterilisationsprozess, zu dessen Angeklagten auch ein Elternpaar aus dem Landkreis Rosenheim gehört, sind die Urteile gefallen. Die Eltern wie auch der Arzt, der die Vasektomie bei dem geistig eingeschränkten Jungen durchgeführt hatte, bekommen Haftstrafen – hinter Gitter müssen sie aber nicht.

Rosenheim – Keine kriminelle Energie, keine Nähe zur NS-Ideologie, vielmehr als Motiv das Gefühl, für ihr Kind das Beste zu tun: Wohlwollend äußerte sich Richter Matthias Braumandl am Landgericht München I über die Angeklagten. In der Verhandlung wegen der vermuteten Zwangssterilisation von zwei jungen Männern, darunter ein geistig eingeschränkter Mann aus dem Landkreis Rosenheim, verhängte das Gericht gegen die drei Angeklagten Haftstrafen auf Bewährung.

Richter sieht massiven
Aufklärungswillen

Ein Arzt aus Grünwald (53) hatte die beiden jungen Männer ohne ihre Einwilligung sterilisiert. Er war wegen schwerer Körperverletzung in zwei Fällen angeklagt worden. Die Eltern von Simon (Name von der Redaktion geändert), dem geistig eingeschränkten jungen Mann aus dem Landkreis Rosenheim, hatten sich wegen Anstiftung in einem Fall zu verantworten.

Der Vorsitzende honorierte unter anderem die „massiven Aufklärungsbemühen“ und das Geständnis des Arztes. Insgesamt hielt er den drei Angeklagten Unbescholtenheit, gute Absicht und eine gute Sozialprognose zugute. Der Arzt und die beiden Eltern seien „sympathische Angeklagte, aber das Verfahren einzustellen, weil Sie so nett sind, das geht nicht“.

Das deutsche Rechtssystem beruhe auch auf den Erfahrungen eines zwölfjährigen Unrechtsregimes. Dass eine Sterilisation eines Betreuten auch vor diesem Hintergrund etwas anderes sei als eine Leistenoperation, das hätten sich die Angeklagten denken können. Daher sprach der Richter Bewährungsstrafen aus: ein Jahr wegen Körperverletzung und versuchter schwerer Körperverletzung gegen den Arzt, neun Monate gegen Vater und Mutter des kognitiv eingeschränkten Rosenheimers.

Staatsanwältin Laura Geislberger war mit den drei Angeklagten hart ins Gericht gegangen. Schuldig der schweren Körperverletzung in zwei Fällen der angeklagte Arzt, schuldig der Anstiftung zur schweren Körperverletzung an ihrem Sohn die Eltern aus dem Landkreis Rosenheim. Der Arzt sei dabei mit krimineller Energie vorgegangen, und natürlich habe er ebenso wie die Eltern wissen müssen, wie streng die Regelungen vor einer Sterilisation seien.

So fasste sie die Ergebnisse der Beweisaufnahme zusammen. Beim Strafmaß zeigte sie sich nachsichtiger. Für beide forderte sie Bewährungsstrafen: genau die Höchstgrenze von zwei Jahren für den Arzt, ein Jahr und drei Monate für die Eltern. Für den Arzt forderte sie allerdings eine hohe Geldstrafe von 50000 Euro an eine gemeinnützige Organisation. Reinhard Köppe als Anwalt von Nebenkläger Yannick (Name von der Redaktion geändert), den der Arzt irrtümlich, wegen der Verwechslung mit Simon, sterilisiert hatte, sah ebenfalls mildernde Umstände. Die Hauptverhandlung habe bei Yannick denn auch die Perspektive geändert. Er glaube nun nicht mehr, dass der Arzt ihn wegen seiner Autismus-Erkrankung absichtlich sterilisiert habe.

Doch sei Yannick noch immer tief verstört und immer noch nicht fähig, eine Ausbildung aufzunehmen. Auch zu einem Vaterschaftstest sehe er sich nicht in der Lage. Wegen der „Wut der vergangenen sieben Jahre“ habe er auch den Täter-Opfer-Ausgleich nicht angenommen.

Irrtümlich Sterilisierter
bis heute tief verstört

Dr. Andreas Schwarzer als Vertreter des angeklagten Mediziners stellte in seinem Plädoyer kein Vergehen fest, sondern Nichtwissen des Arztes. Der 53-jährige Chirurg sei bei Yannick einem Irrtum mit der fahrlässigen Verwechslung der beiden jungen Männer aufgesessen und bei Simon von einem legitimen Auftrag der Eltern ausgegangen – ein „Tatbestandsirrtum“ sei das. Auch von den hohen Hürden vor einer Sterilisation habe der Arzt kaum wissen können.

„Er hinterfragte das nicht“, sagte Schwarzer. Nicht weiter überraschend. Denn „kann man voraussetzen, dass er etwas wissen muss, was auch die Staatsanwaltschaft nicht wusste“? Auch er führte das Verhalten des Arztes nach der irrtümlichen Operation als mildernd an: „Tätige Reue“ sei das Bemühen des Arztes gewesen, den Eingriff bei Yannick rückgängig machen zu lassen. Sein Mandant sei „blauäugig“ gewesen. Er habe „wahnsinnig gelitten“, das Verfahren habe ihn „massivst belastet“.

Rechtsanwältin Christina Dissmann stellte für die Mutter des intelligenzgeminderten Simon fest, der junge Mann habe die Sache sehr wohl beurteilen können. Sich gegen Kinder zu entscheiden, sei „kein so komplexer Sachverhalt“. Dass ihre Mandantin, Simons Mutter, die erforderlichen Gutachten nicht beigebracht und die Entscheidung des Betreuungsgerichts nicht abgewartet habe, sei auf ihre mangelnde Kenntnis in einem Sachverhalt zurückzuführen, in dem sich auch Staatsanwaltschaft und Betreuer selbst nicht ausgekannt hätten.

Die Mutter sei davon ausgegangen, alles Notwendige im Sinne ihres Sohnes getan zu haben. „Von der Einwilligungsfähigkeit ist sie hundertprozentig ausgegangen.“ Die Mutter sei einem Tatbestandsirrtum aufgesessen, den der Betreuungsrichter mit seiner irreführenden Anweisung provoziert habe.

Ebenfalls auf Freispruch für den angeklagten Vater plädierte Rechtsanwältin Ingrid Babic. Der Betreuungsrichter sei als „absolut verlässlich einzustufende Person“ zu betrachten gewesen, es habe allerdings eine „nicht richtige, nicht vollständige Auskunft“ gegeben. Der Richter selbst habe in der Verhandlung bedauert, die Auskunft schriftlich nicht sorgfältig gegeben zu haben, der Vater sei also einem Verbots- und Tatbestandsirrtum gefolgt und sei freizusprechen.

Arzt berichtet von
schweren Belastungen

Sieben Jahre liegen die Operationen zurück, die Belastungen seitdem seien immens. „Wir wurden der Presse zum Fraß vorgeworfen“, sagte der angeklagte Arzt, der mittlerweile in Usbekistan praktiziert, in seinem Schlusswort.

„Ich und mein Mann haben nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt“, sagte die angeklagte Mutter. „Ich kann nur beteuern, dass wir, als wir dem Wunsch Simons entsprochen haben, uns überhaupt keiner Schuld bewusst waren“, sagte der Vater. Drei Stunden später, nach ausgiebigen Beratungen, sprach Richter Braumandl das Urteil: Bewährungsstrafen im unteren Bereich. Der Arzt erhielt die Auflage, 10000 Euro an die „Aktion Mensch“ zu spenden. Insgesamt äußerten sich Eltern und Arzt dem OVB gegenüber zufrieden.

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