Traunstein/Waldkraiburg – „Alles ist schlimm genug. Aber ich hätte nie im Leben gedacht, dass mein Onkel seinem Sohn so etwas antut.“ Das betonte eine 35-Jährige am Freitag im Missbrauchsprozess der Traunsteiner Jugendkammer gegen einen 57-Jährigen aus Waldkraiburg. Dem Anfang 2023 wegen Missbrauchs von minderjährigen Buben in den Jahren 2019 bis 2021 zu neun Jahren Gefängnis verurteilten Angeklagten droht wegen der während des ersten Prozesses bekannt gewordenen weiteren mutmaßlichen Taten an seinem leiblichen Sohn und zwei weiteren Jungen vor 20 bis 25 Jahren die unbegrenzte Sicherungsverwahrung.
Die Hauptverhandlung geht am 16., 21., 22. und 23. August, jeweils um 9.30 Uhr, weiter.
Mann führte scheinbar
unbescholtenes Leben
Der verheiratete 57-Jährige lebte nach außen hin bis zu seiner vorläufigen Festnahme Mitte Juli 2021 ein scheinbar unbescholtenes Leben. Er war nicht vorbestraft und arbeitete damals als Busfahrer auf Linien im Landkreis Rosenheim.
Über seinen Beruf lernte er gemäß Ersturteil mehrere Schüler kennen, mit denen er privaten Kontakt suchte. Machten die Jungen, was er verlangte, bekamen sie Geschenke. Wenn nicht, setzte es üble Drohungen – bis hin zum „Umbringen“.
Über einen Vater, dessen Sohn der Mann verbotenerweise mit dem Auto abgeholt und mit nach Waldkraiburg genommen hatte, geriet dann alles ins Rollen. Der Vater hatte sich das Autokennzeichen notiert. Polizeibeamte fanden das Kind mitten in der Nacht im Schlafzimmer des 57-Jährigen – zusammen mit dem Angeklagten.
Die Jugendkammer am Landgericht Traunstein mit Vorsitzender Richterin Heike Will sprach den 57-Jährigen im Januar 2023 des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwölf Fällen schuldig. Die Öffentlichkeit war in dem Prozess weitgehend ausgeschlossen, um die mittlerweile 15 und 16 Jahre alten Geschädigten zu schonen.
Die Opfer der mutmaßlich weitaus früheren Missbrauchsserie zwischen ungefähr 1992 und 2004 sind inzwischen alle etwa Mitte 30. Den drei Nebenklägern steht Opferanwalt Jörg Zürner aus Mühldorf zur Seite. Bei den bisherigen Aussagen bestätigten die Zeugen die Vorwürfe der Staatsanwältinnen Theresa Finsterwal- der und Helena Neumeier in vollem Umfang. Im Herbst 2002 hatte sich der Sohn (35) des Angeklagten bei der Kripo Mühldorf gemeldet und umfangreiche Angaben über die schlimmen Erlebnisse in seiner Kindheit gemacht.
Opfer litten unter
ungeheuren Ängsten
Zwei weitere Zeugen, 33 und 34 Jahre alt, folgten seinem Beispiel. Möglicherweise gab es ein viertes Opfer. Nach Worten der Kriposachbearbeiterin entschied sich der Mann jedoch gegen eine Aussage bei der Polizei.
Die von der Jugendkammer bereits vernommenen erwachsenen Zeugen berichteten übereinstimmend von ungeheuren Ängsten nach dem Missbrauch in der Kindheit. Sie zogen sich zurück, erzählten – wie vom Angeklagten erzwungen – niemandem etwas von dem Geschehen in den jeweiligen Wohnungen des 57-Jährigen, machten alles allein mit sich aus. Erst das Leid der Kinder aus dem ersten Gerichtsverfahren ermutigte sie, ihr Schweigen zu brechen.
Eine mittlerweile 35-jährige Nichte des Angeklagten wuchs teils mit den Buben auf. Wie sie vor der Jugendkammer betonte, gewann sie zwar den Verdacht, dass irgendetwas nicht stimmte. Aber keiner habe sich geäußert. So war der leibliche Sohn nach ihren Worten als Kind und Jugendlicher immer sehr ruhig, wirkte eingeschüchtert, in sich gekehrt, redete wenig und lachte fast nie. Aus heutiger Sicht müsse der Cousin „eine sehr schwere Zeit durchlebt haben“, so die 35-Jährige.
Ihr Missbrauchsverdacht erhärtete sich nach und nach. Sie schilderte erste Gespräche mit einem der Nebenkläger. Man habe dem Angeklagten einen Brief geschrieben, darin der Satz „Du wirst beobachtet.“ Dazu die Zeugin vor Gericht: „Ich wollte, dass er sich unter Druck fühlt. Ich wollte meinen Onkel einschüchtern.“ Der Brief habe gefruchtet – „auch wenn es leider schon zu spät war“.
Als sie das Geschehene begriffen habe, habe sie auf Fragen keine Antworten bekommen. Ein Opfer habe erklärt: „Ich kann nicht. Ich habe Angst um mein Leben und um meinen Bruder.“ Sie selbst sei zwischen allen gestanden. Ihr gegenüber sei der Angeklagte, ihr Onkel, immer gut, sehr nett, freundlich und hilfsbereit gewesen. Für sie sei es sehr schwierig gewesen, das Ganze zu durchblicken, erklärte die Zeugin. Heute frage sie sich: „Warum hatte ich lange Zeit keinen einzigen Gedanken, dass in unserer Familie so etwas passiert?“
„Wie konnte ich das
nicht sehen“
Das heute 33-jährige Opfer habe ihr später alles erzählt. Darunter war: „Er musste es zu Hause so einrichten, dass es aussah, als ob er freiwillig beim Angeklagten übernachtet. Wenn er in dessen Wohnung nicht mitmachen wollte, wurde er bestraft. Er musste nachts stundenlang auf einem Bein stehen. Ist er umgefallen, wurde er geschlagen.“ Die Zeugin weiter: „Alles ist schlimm genug. Aber das mit dem Sohn habe ich erst im Nachhinein erfahren“, fuhr die 35-Jährige fort.
Nach der aktuellen Situation in der Familie erkundigte sich die Vorsitzende Richterin. Die Zeugin hob heraus: „Der Angeklagte weiß gar nicht, was er uns allen antut. Alles hat sich herumgesprochen. Wir sind alle erschöpft. Die Vorwürfe sind so schwer zu glauben. Aber niemand in der Familie sagt, es wäre nichts gewesen.“ Das Ganze sei kein Thema, bei dem man ruhig bleiben könne. In der Familie werde gedacht: „Wie konnte ich das nicht sehen?“
Irgendwelche Gemütsregungen waren beim Angeklagten – ihn verteidigen Axel Reiter aus Mühldorf und Dr. Markus Frank aus Rosenheim – auch bei der Aussage der sichtlich erschütterten 35-Jährigen nicht zu erkennen. Er wirkte ruhig und teilnahmslos.